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In Blut geschrieben

In Blut geschrieben

Titel: In Blut geschrieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maxime Chattam
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auf und steckte den Kopf ins Innere. Von der Decke des nicht sehr großen Raums hingen Rinderhälften, ansonsten konnte er weder Mobiliar noch andere Zugänge entdecken. Er legte das Vorhängeschloss auf einen Kanister, hier gab es nichts zu sehen, doch vorsichtshalber würde er sich die Garage noch einmal genauer vornehmen, sobald er mit dem Haus fertig wäre – für alle Fälle.
    Er ging zur Hintertür und zog das quietschende Fliegengitter auf. Mit seinem Dietrich machte er sich am Schloss zu schaffen. Es war recht alt und abgenutzt und ließ sich im Handumdrehen öffnen.
    Brolin trat ein, machte schnell die Tür hinter sich zu, damit kein Schnee hineinwehte, und sogleich überfiel ihn eine drückende, beklemmende Stille.
    Er befand sich in einer dunklen Küche. Über der Spüle und der Arbeitsplatte waren fettglänzende Kacheln. Als er weiterging, erzeugten seine feuchten Sohlen ein schmatzendes Geräusch auf dem Linoleum. Das fängt ja gut an.
    Mit klopfendem Herzen sah er sich um: dunkle Holzmöbel, ein Tisch übersät mit Kerben, die nur von Messerschnitten herrühren konnten. In einer Ecke mehrere Kochbücher, daneben ein kleiner Stapel handgeschriebener Rezepte. An der einzigen freien Wand hing nur ein Pirelli-Kalender, der den Monat Januar und den eindrucksvollen Busen eines Models zeigte. Mit seinen behandschuhten Fingern blätterte er ihn durch, auf der Suche nach Anmerkungen. Er fand nur einige unbedeutende Einträge: »Einkaufen«, »Termin Schlachthof«, »Fleischlieferung« …
    Brolin trat auf den Flur.
    Er ließ die Treppe, die in den ersten Stock führte, zunächst links liegen und ging ins Wohnzimmer. Sein Ellenbogen streifte den Gegenstand in seiner Tasche.
    »Oh, verdammt, Annabel!«
    Er zog das Walkie-Talkie hervor, stellte die Frequenz sieben ein und positionierte Kopfhörer und Mikro.
    »Annabel, hören Sie mich?«
    Ein unangenehmes Knistern, dann die Stimme der jungen Frau: »Ja, was haben Sie gemacht?«
    »Nichts, ich bin jetzt im Haus und sehe mich im Erdgeschoss um, alles in Ordnung.«
    Auch im Wohnzimmer war es relativ dunkel, die dicken Vorhänge ließen das trübe Tageslicht kaum herein. Ein leichter Duft hing in der Luft, nicht so schwer wie der von Räucherstäbchen – ein Hauch von Lavendel, dachte Brolin, wie die Säckchen, die man in die Schränke legt. Das Linoleum war einem billigen Teppichboden gewichen, der so abgetreten war, dass er an das Fell eines räudigen Hundes erinnerte. Die Wände waren mit Holz vertäfelt, das mit der Zeit nachgedunkelt war.
    Brolin ließ den Strahl seines Leuchtstifts langsam durch den Raum wandern. Da der Lichtkegel nur einen geringen Durchmesser hatte, musste er nahe herantreten, um Details in Augenschein nehmen zu können. Das Sofa war mit einem zerknitterten blauen Laken bedeckt. Zwischen zwei Falten steckte die Fernbedienung des Fernsehers. Unter dem Couchtisch lag ein Stapel Autozeitschriften.
    Sag mir, wie du lebst, Lucas, verrate mir, wie dein Alltag aussieht. An was denkst du abends nach der Arbeit? An Autos? Das kannst du den anderen vormachen. An Mädchen? Stimmt’s? An Mädchen. Doch du träumst nicht von ihnen wie die anderen! Nicht wie der kleine Brillenträger von nebenan, der auf dem Klo im Penthouse blättert und sich einen runterholt, du geilst dich an den Fotos auf, die du selbst geschossen hast, was? Auf denen man die Leute schreien sieht, denen du Angst gemacht hast, diese Macht ist es, die dir gefällt, diese vollkommene Kontrolle, diese zügellose Verfügungsgewalt für den absoluten Lustgewinn, den echten und einzigen, weil er nur auf dich gerichtet ist, hundert Prozent egoistisch. Deine Lust, deine Macht über den anderen. Nur du und deine Lustschreie.
    Schritt für Schritt arbeitete er sich voran, durchdrang das Dunkel mit seinem Leuchtstift. Es gab keine Grünpflanzen, sie hätten in diesem Dämmerlicht auch gar nicht gedeihen können. Am Ende des Raums zwischen einem Bügeltisch und dem Büfett entdeckte er eine Nähmaschine, ein altes Modell, das aber, dem Plastikkorb voller Stoff nach zu urteilen, noch funktionsfähig war.
    Lucas nutzte seine Schwester aus, so gut er konnte, vermutlich trieb er sie ständig zur Arbeit an, damit sie keine Zeit hatte, ihn in Frage zu stellen. Brolin fiel auf, dass er nirgendwo Fotos gesehen hatte; nicht den geringsten Wandschmuck, den Pirelli-Kalender ausgenommen, falls man den denn als solchen bezeichnen konnte.
    Er sah sich ein letztes Mal um und kehrte in den Flur zurück. Die drei

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