Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In Blut geschrieben

In Blut geschrieben

Titel: In Blut geschrieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maxime Chattam
Vom Netzwerk:
hörst die Aufnahmen, während du mit ihr schläfst?
    Er betrachtete das fleckige Laken ohne Abscheu – dieses Stadium hatte er seit langem überwunden. Dann untersuchte er die Kleidungsstücke auf den Regalbrettern, tastete sie ab, um sicherzugehen, dass nichts darunter verborgen war.
    »Verdammt noch mal, kommen Sie sofort da raus, Brolin, es ist ein Uhr, hören Sie? Shapiro kann jeden Augenblick aufkreuzen.«
    Diesmal antwortete Brolin so leise wie möglich, als fürchtete er, seine Stimme könnte im Nachbarzimmer zu hören sein: »Ich bin gleich da. Geben Sie mir noch zwei Minuten.«
    »Wir haben keine zwei Minuten mehr, er kann jede Sekunde hier sein.«
    »Es dauert nicht lange.«
    Er hatte den Satz kaum ausgesprochen, als erneut ein Schrei aus dem Kassettenrekorder ertönte. Vorsichtshalber, um Annabel nicht zu erschrecken, hatte er sein Mikro ausgeschaltet.
    Auf der Suche nach Aufzeichnungen oder Fotos hob er die Matratze an, dann machte er sich daran, mit dem Schaft seines Leuchtstifts die Wände abzuklopfen. Nach einer Weile traf er auf ein verräterisches Geräusch. Einen Ton, der dumpf war, nicht hart und trocken. Er versuchte es oberhalb und seitlich der Stelle. Kein Zweifel, da war etwas. Er tastete an der Wand entlang nach unten und spürte am Boden eine Metallschiene. Seine Hand glitt bis zur Decke hinauf, wo er parallel zur ersten ebenfalls eine Schiene fand.
    Brolin trat einen Schritt zurück und nahm die Wand genauer in Augenschein. Aus dem Kassettenrekorder schrillten noch immer Schmerzensschreie.
    Plötzlich entdeckte er zwei senkrechte Falten, die von der Decke bis zum Boden reichten. Das fiel auf den ersten Blick nicht weiter auf, der Stoff war überall schlecht gespannt und faltig, so dass das ganze Zimmer wie eine stark gemaserte Holzschachtel wirkte, nur reichten diese Falten schnurgerade vom Teppich bis zur Decke. Brolin zog ein wenig daran, erst nach der einen, dann nach der anderen Seite.
    Wie ein Vorhang, der sich auf Schienen über die restliche Bespannung schob, glitt das Wandstück zur Seite und gab die darunter liegende Mauer frei.
    Augenpaare, erfüllt von dumpfem Grauen, starrten ihn an und fixierten den unvermuteten Betrachter.
    Die Fotos waren an die Wand geklebt, mehrere Dutzend.
    Brolin zwang sich, tief durchzuatmen, um seinen Herzschlag zu beruhigen.
    *
    Die Uhr am Armaturenbrett zeigte 13:16.
    Die Sicherheitsmarge war längst überschritten. Annabel biss sich auf die Lippe. Was treibst du, Brolin?
    Er hatte das Walkie-Talkie ausgeschaltet, wahrscheinlich weil er nicht gestört werden wollte. Wie gebannt starrte sie wieder auf die Quarzanzeige. Es wurde jetzt wirklich gefährlich.
    Verdammt noch mal. Mist. Mist.
    Annabel streifte ihre Handschuhe über, schloss den Reißverschluss ihrer Bomberjacke und sprang aus dem Wagen. Sie durften nicht länger warten. Shapiro würde jede Sekunde auftauchen.
    Sie setzte ihre Baseballkappe auf, rannte über den Gehweg und bog in die Zufahrt ein.
    Zum Teufel mit der Diskretion.
    Der Hof erinnerte in seiner Tristesse an ein verlassenes Fabrikgelände. Annabel sah die Hintertür des Hauses und vor allem die angelehnte Tür der Garage.
    Klar. Brolin hatte im Haus angefangen, das Wichtigste zuerst, und dann dort weitergemacht.
    Das Vorhängeschloss auf dem Kanister schien ihre Vermutung zu bestätigen, und sie trat ein. Bei jedem Schritt auf den Blechplatten am Boden gaben ihre Timberlands ein verräterisches Geräusch von sich.
    »Brolin?«, flüsterte sie.
    Mehrere Fleischstücke hingen an rostfreien S-Haken in der eisigen Kälte. Als sich Annabel weiter vorantastete, glitt die Tür langsam bis auf einen schmalen Spalt zu, im Inneren wurde es immer dunkler, nur ein weißer Lichtstreifen fiel durch die Öffnung.
    »Brolin?«, rief Annabel etwas lauter.
    Warum blieb er im Dunkeln?
    Sie wollte schon kehrtmachen, hielt dann aber instinktiv inne. Sie fand einen Lichtschalter und knipste ihn an. Die Neonröhren knisterten und warfen ihre weißen Blitze an die Decke. Wie scharfe Reißzähne reihten sich die Haken an dem metallenen Deckenbalken zu einem gefährlichen Gebiss. Einige waren belegt, andere schärften ihre Enden in der Kälte. Trotz der extrem niedrigen Temperaturen hing ein stechender Geruch in der Luft, der sich über den ganzen Raum verteilte. Es roch nach totem Fleisch, ein durchdringender Gestank, der in der Nase brannte.
    Annabel bewegte sich zwischen den roten Gerippen hindurch und bückte sich schließlich, um darunter zu schauen.

Weitere Kostenlose Bücher