In Blut geschrieben
sofort wieder. Er hatte keine Zeit mehr. Er musste sich beeilen.
Ein Knistern, gefolgt von einer verzerrten Stimme, drang an sein Ohr. Das musste Annabel sein, doch er konnte sie nicht verstehen.
»Ich habe etwas gefunden, ich komme sofort«, erklärte er, ohne zu wissen, ob sie ihn hörte.
Er warf einen letzten Blick auf die versteckte Mauer.
I.dW.
Das sagte ihm etwas, das hatte er schon einmal gesehen.
Der Terminkalender!
Fieberhaft blätterte er ihn durch. Januar. Nichts. Er warf einen Blick auf seine Uhr. 13:15. Die Deadline war längst überschritten.
Auch im Dezember nichts. Aber unter dem Datum des 20. November stand rot umrandet I.dW. und der Vermerk »16 Uhr, 451 Bond St. Diskret, keine Fragen, wenn cash.«
Bingo!
Brolin zog sein Notizbuch aus der Tasche und kritzelte die Adresse hinein. Er musste sofort verschwinden, Shapiro könnte jede Sekunde auftauchen, falls sein Wagen nicht schon vor dem Haus stand.
Vielleicht hat Annabel mir das sagen wollen?
Kalter Schweiß rann ihm über Stirn und Rücken. Los, weg von hier!
Dann würde er die Garage eben nicht mehr unter die Lupe nehmen, er musste machen, dass er von hier weg kam, schnell und weit. Er schaltete eilig den Kassettenrekorder aus, und erst als wieder Stille eingekehrt war, bemerkte Brolin, wie sehr ihn die Aufnahme mitgenommen hatte. Doch es war stärker als er, er hatte sie sich anhören, in dieses Grauen eintauchen müssen, um besser zu verstehen. Sorgfältig verstaute er alles an seinem Platz unter dem Bett.
Dann schob er das Wandstück wieder in die alte Position, stellte den Stuhl zurück und lief zur Treppe.
*
Ihre Zähne schimmerten in dem blauen Licht. Annabel wich zurück. Das Mädchen, das sie anstarrte, hing an einem Fleischerhaken, die Beine baumelten in der Luft. Ihre Totenmaske, erstarrt im Schmerz des letzten Atemzuges, war schrecklich anzusehen. Für eine Sekunde hatte Annabel geglaubt, ihren Schrei neben ihrem eigenen zu hören. Einbildung, geboren aus der Angst.
Das Blut hämmerte in ihren Schläfen, so heftig schlug ihr Herz. Das Mädchen ist tot, also reiß dich zusammen, es ist schließlich nicht die erste Leiche, die du siehst, sagte sie sich.
Doch dieser Anblick war besonders grauenhaft.
Detective O.’Donnel überwand ihren Abscheu und hielt den Leuchtstab an den Körper. Die Haut schimmerte milchig.
Verschiedene Körperflüssigkeiten waren an der Innenseite der Beine heruntergelaufen und zu langen farbigen Kristallnarben gefroren. Annabel begriff sofort, dass es sich bei dem dunklen Fleck auf dem Boden, der im Schein ihres Stabes schimmerte, um das Blut des Mädchens handelte. So war sie gestorben: vergewaltigt, dann am Rücken auf einen Fleischerhaken aufgespießt, an dem man sie hatte hängen lassen. Tod durch Erfrieren oder durch Blutverlust.
Annabel versuchte angestrengt, einen kühlen Kopf zu bewahren, und ging um die Tote herum. Das bläuliche Licht des Cyalume-Leuchtstabs war nicht sehr hell, und so musste sie nahe herantreten, wollte sie die Details genau erkennen. Auf einer Werkbank lagen neben Handschellen, Stricken und Spannvorrichtungen mehrere Messer. Und, der Gipfel, Lucas Shapiro hatte hier eine Isolierbox aufgestellt, um sein Material vor der Kälte zu schützen. Darin fand sie einen Tätowier-Apparat – das einfache Grundmodell, das man sich über jede Tattoo-Zeitschrift bestellen konnte –, einen Schweißbrenner mit Gasflasche, Chloroform und einen Colt.45 mit Munition. Das reichte aus, um Lucas Shapiro auf den elektrischen Stuhl zu bringen.
Annabel schloss die Box und machte kehrt. Sie musste sofort hier raus und ihre Kollegen verständigen. Brolin würde in einem anonymen Anruf erklären, er habe das Mädchen, das gestern Abend in den Nachrichten gezeigt wurde, mit einem Typen gesehen. Er würde Shapiros Adresse angeben, und die Sache wäre perfekt.
Die Tür des Schuppens quietschte in den Angeln.
Von ihrer Position aus konnte Annabel sie nicht sehen.
Keine Panik, das ist nur die Zugluft.
Doch es gab nur diese eine Öffnung.
Verdammt. Sie zwang sich, tief durchzuatmen, um nicht in Panik zu geraten, und zog ihre Waffe aus dem Halfter. Es ist nichts, da ist niemand. Vielleicht hat Brolin die Tür geschlossen, ohne zu wissen, dass du drin bist.
Die Worte erstarben in ihrem Geist, als das Licht erlosch.
Annabel stand im Dunkeln. Nur ihr Leuchtstab verbreitete einen schwachen blauen Schein.
Er zeigte an, wo sie sich befand.
28
Das Brummen der Kühlung übertönte alle anderen
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