In Blut geschrieben
Zeugen befassten: Julia Claudio, die sich aus Spencer Lynchs Fängen hatte befreien können, und Janine Shapiro, für die die Lage nicht gerade rosig war. Sie verharrte noch immer in tiefem Schweigen, antwortete auf Fragen nur durch gelegentliches Nicken oder Kopfschütteln.
Am Freitagmorgen kam Annabel um sieben Uhr ins Büro und traf in der Räucherkammer bereits Thayer an, der seine Notizen zusammenfasste.
»Wir fahren heute nach New Jersey«, sagte er, ohne den Blick von seinen Papieren zu heben. »Das hätten wir schon längst tun sollen.«
»Ist nicht Lucas Shapiro dringlicher?«
»Darum kümmert sich ein anderes Team, sie durchsuchen sein Haus und nehmen alles genau unter die Lupe. Brett Cahill leitet die Aktion. Wenn sie etwas entdecken, werden wir sofort informiert. Wir fahren nach Boonton, um die Spur dieser Postkarte zu verfolgen.«
Er wedelte mit besagter Karte herum, auf der Bob sein kleines Rätsel an Spencer Lynch geschickt hatte.
»Danach statten wir John Wilkes einen Besuch ab, das ist der Mann, der nicht ans Telefon geht. Der Sheriff von Clinton hat ihn schon informiert.«
»Und der andere, der in Kanada Urlaub macht, hast du den erreicht?«
Thayer runzelte die Stirn.
»Dieser Wilkes ist ein echtes Phänomen. Er kennt keinen J. C. in seinem Umfeld, nicht sehr sympathisch.«
»Jack …«
Annabels Tonfall war so ernst, dass er innehielt und sie ansah. Sie war sich nicht sicher, wie ein kleines Mädchen, das Angst hat, ausgeschimpft zu werden. Sie hatte schlecht geschlafen – so gut wie gar nicht, um ehrlich zu sein – und immer wieder daran denken müssen, was sie getan hatte, an die Flucht aus Shapiros Haus. Am liebsten hätte sie alles gestanden, um sich von der Last zu befreien. Die grauen Augen ihres Freundes fixierten sie.
»Was ist denn?« Er ging um seinen Schreibtisch herum und legte ihr die Hand auf den Arm. »Was hast du, Annabel?«
Die ganze Nacht über hatte sie die Sätze immer wieder vor sich hingesagt, die nun, zunehmend schwerer und belastender, nach draußen drängten, um den Druck in Erleichterung zu verwandeln. Sie schüttelte den Kopf.
»Nichts, ich bin nur müde. Alles in Ordnung.«
Sie schluckte die Bitterkeit hinunter. Sie durfte sich ihm nicht anvertrauen. Er war ihr Freund, aber er war auch ein Polizist. Sie bohrte die Nägel in die Handflächen und verzog das Gesicht zu einem gezwungenen Lächeln.
Sie fuhren hinter einem Sattelschlepper an Jersey City vorbei Richtung Newark. Jack Thayer saß am Steuer. Annabel saß neben ihm und las die Zeitung. Ihr erstes Ziel war Boonton, danach Clinton, um John Wilkes in New Jersey zu treffen, obwohl es außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs lag. Es war keine offizielle Ermittlung, sie wollten nur ein paar Fragen stellen, um mit ihren Untersuchungen voranzukommen. Die Staatspolizei wegen dieser Kleinigkeit zu bemühen lohnte sich nicht, dachten sie. Es war ein kurzer Abstecher auf der Suche nach der einen oder anderen Antwort, in der schwachen Hoffnung, dass dieser Wilkes einen Angehörigen namens J. C. hatte.
Sie fuhren an Sumpflandschaften, Industriegebieten, eintönigen Städten am Hudson River vorbei. Während der Fahrt durch Manhattan und den Holland Tunnel hatte Annabel ihrem Kollegen erzählt, dass sie den Abend mit Joshua Brolin, dem Privatdetektiv, verbracht hatte. Er hatte nichts dazu gesagt, nur aufmerksam zugehört. Sie erklärte ihm die Schlüsse, die der Detektiv gezogen hatte, und vor allem, was sie bedeuteten: Sie wiesen auf die Entführung einer ganzen Familie hin. Thayer blieb schweigsam. Ob er Brolins Schlussfolgerungen nun für an den Haaren herbeigezogen oder für gerechtfertigt hielt, was konnte er tun? Sollte er etwa alle Familien der nördlichen Ostküste unter Schutz stellen? Während der nächsten Meilen war nur das Brummen des Motors zu hören.
Später drehten sich die Gespräche vor allem um Brett Cahill. Annabel fand ihn sympathisch, energisch, modern – aus ihrem Mund nicht gerade ein Kompliment und vor allem sah er gut aus. Thayer hielt den jungen Wolf für ausreichend intelligent, um seinen gnadenlosen Ehrgeiz hinter freundlichem Benehmen und Wohlerzogenheit zu verbergen. Sie kamen überein, dass sie ihm bis jetzt zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatten, um sich ein Urteil erlauben zu können.
Als sie Newark und sein Luftballett hinter sich gelassen hatten, bogen sie auf die I-280 ab, und bald füllte nur noch die Musik aus dem Radio die Stille. Auf beiden Seiten der Straße
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