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In Blut geschrieben

In Blut geschrieben

Titel: In Blut geschrieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maxime Chattam
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erstreckte sich ein tristes Industriegebiet mit seinen Wohnsilos, die man Schlafstadt nannte, um jede Polemik zu vermeiden.
    Ihr Besuch in Boonton erwies sich als enttäuschend. Die Postkarte wurde in mehreren Geschäften der Stadt verkauft, man konnte sie sogar in einer Reihe von Museen im ganzen Bundesstaat erwerben. Darauf abgebildet war eine Ansicht von Boonton vor etwa einem Jahrhundert mit dem Morris-Kanal, einer einst berühmten, heute aber verschwundenen Anlage, die den Bundesstaat New Jersey von Phillipsburg bis nach Jersey City durchquerte. Die Postkarte wurde nicht sehr häufig verkauft, es gab aber noch genügend Lagerbestände. Natürlich erinnerte sich niemand mehr an irgendetwas, ganz besonders nicht an einen Käufer. Annabel und Thayer bemühten sich den ganzen Vormittag, vergeblich. Bob konnte sie überall und jederzeit gekauft haben. Sie aßen schnell ein Sandwich und fuhren enttäuscht weiter in südliche Richtung.
    Die Landschaft hatte nur noch leere Felder zu bieten. Je weiter sie kamen, umso öfter tauchten am Straßenrand Schneeflecken auf, die die Landschaft mit weißen Tupfen übersäten wie mit zerknitterten, auf die Erde gestürzten Wolken.
    Sie verließen den Highway und näherten sich ihrem Ziel: Clinton. Die Stadt lag in sich gekehrt wie ein Murmeltier im Winterschlaf vor ihnen, wartete auf die Sonne, um ihre Anmut und ihren Charme zu entfalten. Thayer hielt zweimal an, um sich nach dem Weg zu erkundigen, bevor sie in eine schlammige Allee einbogen, die zu zwei abseits der Stadt am Fuße eines bewaldeten Hügels gelegenen Häusern führte. Jack Thayer parkte das Auto auf dem Seitenstreifen, und sie stiegen aus. Es war frisch, rauer als in New York. Annabel ging an einem Holzzaun entlang, der, wie die Häuser auch, im Laufe der langen Winter einen Großteil seines Glanzes verloren hatte. In dem zu hohen Gras im Garten rostete eine Schaukel, die im Wind leise knarrte, langsam vor sich hin.
    »Das ist das Haus«, meinte Thayer.
    »Das habe ich mir schon gedacht. Es ist immer dort, wo es am ruhigsten ist«, sagte sie grinsend.
    Da sie keine Klingel fanden, öffneten sie das Gartentor und gingen zur Veranda, um an die Tür zu klopfen. Ein Hund bellte im Innern, und ein hoch gewachsener, mindestens einen Meter neunzig großer, weißhaariger Mann kam heraus. Seine blauen lebhaften Augen musterten die beiden Polizisten.
    »Was kann ich für Sie tun?«
    Thayer zeigte seine Polizeimarke.
    »John Wilkes?«
    »Ja«, erwiderte der alte Mann leicht nervös.
    »Ich bin Detective Thayer, und dies ist Detective O’Donnel. Wir möchten Ihnen gerne ein paar Fragen stellen, ganz unverbindlich, nichts Offizielles. Sie sind nicht verpflichtet, darauf zu antworten. Es wäre aber sehr wichtig für uns.«
    »Sie sind nicht aus Clinton. Woher kommen Sie?«, fragte der Riese, ohne von der Türschwelle zurückzutreten.
    »New York.«
    »Ah.«
    Es war eines jener viel sagenden ›Ahs‹, die viele enttäuschende Erfahrungen und eine Menge Unannehmlichkeiten verrieten und wenig Hoffnung auf eine Fortsetzung des Gesprächs machten.
    »Dann haben Sie wohl den Sheriff angerufen«, fuhr er fort. »Er war hier und hat mir gesagt, dass Sie kommen würden. Ich gehe nicht ans Telefon, wenn ich meine Modelle baue, sonst kann ich mich nicht konzentrieren.«
    »Es geht um mehrere verschwundene Menschen, Mister Wilkes«, griff Annabel ein, »darunter auch Kinder. Sie würden uns einen großen Gefallen tun, wenn Sie unsere Fragen beantworten könnten. Es dauert wirklich nur ein paar Minuten.«
    Der alte Mann mit dem durchdringenden Blick und den zerzausten Haaren starrte sie lange an. Dann deutete er mit seinem riesigen Finger auf sie.
    »Haben Sie nichts anderes anzuziehen?«
    Thayer trug den immer gleichen Baumwollanzug, zerknittert, aber sauber, während Annabel unter ihrer Bomberjacke Jeans und Rollkragenpullover anhatte. Sie blickten sich an, zweifelnd, schüttelten dann den Kopf.
    »Gut, Pech für Sie. Ich bin gerne bereit, Ihre Fragen zu beantworten, aber es ist Zeit für den Hundespaziergang, und der da drinnen würde nicht verstehen, warum wir heute nicht gehen, Polizei hin oder her. Warten Sie bitte einen Augenblick.«
    Er kam in einer gelben Windjacke und mit einer mehr als abgetragenen roten Texaco-Kappe auf dem Kopf zurück. Ein heller Labrador folgte ihm.
    »Komm, Norb, auf geht’s!«
    Der Hund schlängelte sich zwischen ihren Beinen durch und stob davon. John Wilkes folgte ihm.
    »Der Anfang gefällt ihm nicht so

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