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In Blut geschrieben

In Blut geschrieben

Titel: In Blut geschrieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maxime Chattam
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Bande.
    Am frühen Nachmittag beschloss Brolin, dort hinzufahren, um sich zumindest mit der Atmosphäre vertraut zu machen und vielleicht einen kurzen Blick hineinzuwerfen. Laut Plan war es das letzte Gebäude in der Bond Street, am Ende einer Sackgasse, direkt am Gowanus Canal. Brolin wusste, dass dieses Viertel als der Friedhof der Mafia galt, und dass eine Reihe von störenden Mitbürgern mit einem Betonblock an den Füßen den Fischen im Kanal als Futter diente. Red Hook hatte wirklich nicht den besten Ruf, selbst zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts.
    Nachdem er die U-Bahn verlassen hatte, ging Brolin die Carroll Street hinunter und tauchte mit jedem Schritt weiter in die Stille ein. Es gab keine Wohnhäuser, nur kleine Unternehmen, Speicher, lange Reihen von Werkstätten mit Firmenschildern auf Englisch, Italienisch oder Mandarin. Das ganze Areal bestand aus flachen Gebäuden mit düsteren Fassaden, so als dürfe sich hier nichts erheben, auch die Menschen nicht. Die wenigen Passanten waren finster dreinblickende Männer, die beim Gehen nur auf ihre Fußspitzen starrten. Zwischendurch raste ein Jugendlicher auf einem Motorrad die Straße entlang. Man hörte keine Stimmen, keine Gespräche, nur das Seufzen einer hydraulischen Presse in der Ferne oder das Quietschen eines Krans.
    Nach zehn Minuten bog Brolin in die Bond Street ein. Ein Schrottplatz säumte den Kanal, dessen Wasserfläche unter dem Grau des Himmels wie marmoriert wirkte. Brolin blieb stehen und blickte sich um. Im Norden sah er einen riesigen, in den Farben Italiens grün-weiß-rot gestrichenen Schornstein, der ihn an Dante denken ließ. Dante, den Dichter, nicht den Mörder. Dahinter die trostlosen braunen Wohnsilos der Sozialsiedlung Red Hook.
    Er erreichte das Ende der Straße: eine verdreckte Sackgasse, deren schmale Gehwege mit modrigen Paletten vollgestellt waren. Nummer 451 war ein Haufen roter Backsteine, die nur mühsam die drei Stockwerke erklommen, an den Fenstern hingen mit »Fresken« verzierte Läden. Die beiden Verladekais des Lagerhauses waren seit dem Vietnam-Krieg unbenutzt. Sie verschwanden fast unter Kleider fetzen und aufgerissenen Pappkartons, die Mauern waren mit Graffiti überzogen. Wie um diesen offensichtlichen Altersruhestand zu unterstreichen, stand ein Autowrack vor einer der Kaimauern – geöffnete Motorhaube, Räder ohne Reifen, obszöne Symbole an den Türen.
    Gegenüber entluden vier schweigsame Männer zwei Lastwagen und ließen die Ware in einem Ersatzteillager verschwinden. Das waren mehr Menschen, als Brolin seit Beginn seines Rundgangs durch Red Hook insgesamt gesehen hatte. Nachts musste diese Gegend bis auf ein paar finstere Gestalten völlig menschenleer sein.
    Wieder betrachtete er die alte Lagerhalle.
    Shapiro und Bob waren hierher gekommen. Hatten sie hier den geplanten Tempel eingerichtet? Das war von außen nicht zu erkennen. Nach der Verhaftung von Lynch und dem Tod von Shapiro hatte Bob diesen Ort vermutlich aufgegeben. Ein solches Versteck hatte keinen Sinn mehr, wenn die Polizei jeden Augenblick auftauchen konnte.
    Brolin ging weiter, legte die letzten Meter Asphalt zurück. Die Bond Street endete an einer Schranke, auf die ein meterhoher Berg von Gerümpel folgte und dann der Gowanus Canal mit seinem übel riechenden Wasser. Brolin zog eine Zigarettenschachtel aus der Tasche, setzte sich auf die Schranke und ließ den Blick schweifen.
    Im Süden raste die Hochbahn über ihre Betontrasse wie ein Seiltänzer moderner Zeiten. Genau darüber – oder täuschte es durch die Entfernung? – beherrschte der Brooklyn-Queens-Expressway Red Hook und die Gowanus Bay und ließ die zögerlichen Flecken seiner Autos wie in Zeitlupe vorüberziehen. Brolin blies den schädlichen Rauch aus. Zu seinen Füßen hing ein Fahrrad an seiner Diebstahlsicherung, völlig ausgeschlachtet, nur der Rahmen war noch übrig.
    Mit bitterer Miene betrachtete Brolin den Glimmstängel zwischen seinen Fingern. Früher, in einem anderen Leben, hatte er aufgehört zu rauchen. Ein ferner Traum, verschwommene Bilder von Rosenblüten und lachendem Saphirblau. Oder vielmehr ein vernebelter Albtraum, ja, das war’s, ein blutiges Lächeln. Er schnippte die Kippe in einen Plastikkanister und wandte sich wieder dem Lagerhaus zu.
    Zwei der Lieferanten warfen sich gerade freundschaftliche Beleidigungen an den Kopf. Brolin schenkte ihnen keine Beachtung und begann zu grübeln. Er hatte alle Akten der Polizei über die aktuelle Lage,

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