In dein Herz geschrieben
Notruf.
»Bett?«, meldete sich May wieder zu Wort. »Oh, nein, sie wird bestimmt keine Nacht unter diesem Dach verbringen!«
Doris achtete nicht auf sie, also beschloss Cassandra, ihrem Beispiel zu folgen. Nachdem Doris aufgelegt hatte, halfen sie Evelyn beim Aufstehen und führten sie langsam aus der Küche. May zeterte hinter ihnen und schlug so heftig die Schranktüren zu, dass die Gläser darin klirrten.
»Wir sollten sie lieber nicht in Mays Zimmer unterbringen«, meinte Doris. »Glaubst, sie schafft es die Treppe hinauf?«
»Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden«, erwiderte Cassandra.
Der Hund lief vor ihnen her. Als sie den oberen Treppenabsatz erreichten, riss Annie Laurie ihre Zimmertür auf. »Sugar!
«, kreischte sie, worauf der Hund auf sie zulief und sie ihn hochhob. In diesem Moment erkannte sie Evelyn Lundy und schaute sie mit aufgerissenen Augen an. »Was ist passiert?«
»Mach die Tür zu meinem Zimmer auf, Schatz«, forderte Doris sie auf. »Und hol ein sauberes Handtuch aus dem Badezimmer.«
In Windeseile hatte sie Evelyn die Kleider ausgezogen und begann, sie mit dem Handtuch abzurubbeln. Sie war so mager, dass Cassandra ihre Rippen erkennen konnte, und ihre Haut war ganz glatt und weiß, kein einziger Altersfleck, keine Krampfader, nichts bis auf ein paar Fältchen. Ich sollte mich schämen, dachte Cassandra. Sie sieht nackt besser aus als ich, dabei ist sie alt genug, um meine Mutter sein zu können.
Obwohl es heiß war, hatte Evelyn zu zittern begonnen, als hätte sie Fieber. Doris zog ihr ein Flanellnachthemd an und steckte sie unter die Decke. Evelyn lag mit geschlossenen Augen da. Ihre Lippen bewegten sich, doch kein Laut drang hervor. Die drei standen ums Bett und sahen sie an, und Cassandra fragte sich, worauf sie warteten. Vielleicht nur, um sicher zu sein, dass sie atmete.
Ein paar Minuten später kamen die mit allerlei Gerätschaften bewaffneten Sanitäter die Treppe heraufgepoltert. Cassandra, Doris und Annie Laurie traten zurück, um Platz zu machen. Cassandra hatte nicht damit gerechnet, dass sie gleich so viele schicken würden, fünf insgesamt. Es musste ein ereignisloser Abend auf der Insel sein. Annie Laurie trat neben sie, und Cassandra legte ihr den Arm um die Schultern. Sie hatte völlig vergessen, dass diese Frau keine Fremde für das Mädchen war.
»Was ist passiert?«, wollte ein älterer Sanitäter wissen, der offensichtlich das Kommando hatte, aber eher wie ein pensionierter Zahnarzt aussah. Bei der Sanitäterin handelte es sich allem Anschein nach um seine Frau, die drei anderen waren Männer, allesamt deutlich jünger, groß und stämmig.
»Ich bin nicht sicher«, antwortete Cassandra. »Ich habe sie aus dem Wasser gezogen und dann ist sie zusammengebrochen.«
»Ma’am«, sagte der Sanitäter, tätschelte Evelyns Hand und berührte ihre Wange. »Ma’am, haben Sie etwas eingenommen? Haben Sie Tabletten geschluckt? Ein Schlafmittel? Ma’am, wachen Sie auf.«
Evelyns Kopf rollte auf dem Kissen hin und her, und sie stöhnte. Der Sanitäter tätschelte sie und fragte weiter. »Nein! Keine Tabletten«, rief sie schließlich. »Ich habe nichts genommen. Und jetzt lassen Sie mich bitte in Ruhe.«
Die Sanitäter öffneten ihre Notfallkoffer und machten eine Reihe von Untersuchungen, ehe sie feststellten, dass sie nicht ins Krankenhaus gebracht werden musste. »Aber ich empfehle Ihnen, morgen zu Ihrem Hausarzt zu gehen, nur zur Sicherheit«, sagte der ältere.
Noch während sie ihre Sachen zusammenpackten und aufbrachen, schlief Evelyn ein. Cassandra musterte sie eingehend, um sicher zu sein, dass sich ihre Brust regelmäßig hob und senkte. Nicht auszudenken, wenn sie später wiederkäme und sie tot vorfände.
»Was machen wir jetzt?«, flüsterte Annie Laurie.
»Annie Laurie, Schatz«, sagte Doris, »geh zurück ins Bett. Es wird spät.«
»Aber ich will sehen, was passiert.«
»Annie Laurie.«
»Kann Sugar bei mir im Zimmer bleiben?«
Doris seufzte. »Aber sieh zu, dass May es nicht mitbekommt. Und dass er genug Wasser zu trinken hat.«
»Ja, gut.« Annie Laurie verschwand in ihrem Zimmer.
Doris machte Anstalten, die Treppe hinunterzugehen, blieb jedoch stehen und drehte sich zu Cassandra um. »Kommst du?«
Doris mochte so tun, als hätte die kleine Unterredung zwischen
ihnen vor ein paar Tagen nicht stattgefunden, doch Cassandra bezweifelte, dass es ihr gelänge. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Sie folgte ihr nach
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