In dein Herz geschrieben
sah seinen Vater in der Tür seines Schlafzimmers stehen.
»Mein Sohn«, sagte er.
Dennis seufzte, als sein Vater auf den Korridor trat und die Tür hinter sich schloss.
»Deine Mutter schläft schon«, fuhr er fort. »Ruth Ann hat angerufen. Cassandra hat sich gemeldet.«
Dennis’ Herzschlag beschleunigte sich. »Was hat sie gesagt? Wo ist sie?«
Sein Vater schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ruth Ann meinte, sie wollte es nicht sagen. Sie wolle morgen noch einmal anrufen und alles erklären.«
Morgen? Wie zum Teufel sollte er bis morgen warten? Sein Vater legte ihm die Hand auf die Schulter. »Es tut mir so wahnsinnig leid«, sagte er im selben Tonfall, den er sonst bei trauernden Familien anschlug.
»Ich weiß, Daddy.« Als Dennis nach oben ging, schaltete er weder das Licht ein, noch zog er seine Sachen aus, sondern ließ sich aufs Bett fallen. Als er dalag und dieselben Schatten anstarrte, die er sein ganzes Leben lang angestarrt hatte, begriff er entsetzt, wie wenig sich dieses Zimmer seit seinem vierzehnten Lebensjahr verändert hatte. Bis auf das Bett. Als er zu groß für das alte Einzelbett geworden war, hatte seine Mutter das große Doppelbett aus Walnussholz vom Dachboden holen lassen, in dem er seit damals schlief. Er drehte sich auf die Seite und sah aus dem Fenster. Er ließ die Vorhänge offen, um den Ahornbaum sehen zu können. Cassandra liebte diesen Baum, fand ihn wunderschön.
Er hörte, wie die Tür zum Zimmer seines Vaters wiederum aufging, dann die Toilettentür. Der alte Mann stand mittlerweile bestimmt dreimal pro Nacht auf, und auch wenn er sich noch so bemühte, leise zu sein, wachte Dennis jedes Mal auf. Einmal hatte er sich darüber bei Cassandra beschwert. »Dennis, ich würde meinen rechten Arm dafür hergeben, Mama am Ende des Korridors schnarchen zu hören. Ich bräuchte noch nicht einmal mit ihr zu reden, sondern es würde mir schon reichen, sie nur zu hören, zu wissen, dass sie da ist.«
Das war etwa sechs Monate nach ihrem Tod gewesen, und Cassandra war in Tränen ausgebrochen. Sie hatte an seiner Schulter geweint und später über sich selbst gelacht.
Es geht ihr gut, dachte er. Das ist das Allerwichtigste. Sie hatte keinen Unfall, war nicht entführt worden oder saß ohne Benzin irgendwo auf einem gottverlassenen Highway. Nichts von alldem. Sie war in Sicherheit, doch statt Erleichterung verspürte er Wut. Er setzte sich auf und sah zum Fenster. Diese Frau, die ihn lieben und ehren sollte, bis dass der Tod sie schied, war irgendwo da draußen, ganz allein, und überließ es ihm, das Chaos zu beseitigen und zu warten, bis sie sich entschloss, zurückzukommen.
Ehe er sich’s versah, stand Dennis auf dem Bürgersteig, sah am Haus hinauf und verspürte das verzweifelte Bedürfnis, nicht wieder hineinzugehen. Nicht nur an diesem Abend, sondern überhaupt nicht mehr. Die Schatten der Bäume fielen im Schein der Straßenlaternen auf den Gehsteig, einer neben dem anderen, wie Gitterstäbe vor einem Fenster. Er setzte sich in Bewegung. Wenn Cassandra weglaufen konnte, konnte er das auch. Was ihr guttat, war auch für ihn nicht schlecht. Mit einem großen Unterschied. Seine Eltern lebten noch.
Als Dennis zwölf war, waren sie mit der Beisetzung eines Jungen betraut worden, dessen kleiner Bruder ihn aus Versehen erschossen hatte. Schon damals hatte Dennis eine Menge toter Leute gesehen, konnte sich aber nicht erinnern, dass jemals ein Junge in seinem Alter darunter gewesen war. Seine Eltern waren außer sich. Sie erlaubten ihm nicht, in den Keller zu gehen, nicht einmal, als seine Cousine Nona die Leiche fertig machte. Er hatte ihr unzählige Male dabei zugesehen, und nie hatten sich seine Eltern daran gestört.
Am Abend der Aufbahrung begegnete er dem kleinen Bruder, der allein in einer Ecke stand. Seine Mutter musste unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln stehen, denn sie saß da, starrte ins Leere und trat weder vor den Sarg, noch weinte sie
oder sprach mit jemandem. Der Vater kam nicht einmal herein, sondern stand draußen, rauchte und sprach mit den Trauergästen. Stundenlang stand der Junge in dieser Ecke und ließ den Sarg keine Sekunde aus den Augen, als erwarte er oder hoffe zumindest, dass sich der Deckel hob und sein toter Bruder wiederauferstand.
Dennis beobachtete den Jungen und fragte sich, wieso niemand auf ihn zuging und mit ihm redete. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Er trat vor ihn, doch der Junge stellte sich nur auf die Zehenspitzen,
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