In dein Herz geschrieben
Mädchen hatte sie immer so getan, als sei sie erwachsen und trinke Champagner aus eleganten Gläsern. Cassandra nahm noch einen Schluck aus der Flasche - inzwischen war es sowieso zu spät, um den schicken Gläsern nachzutrauern.
Sie schaltete die Scheinwerfer aus und legte den Kopf in den Nacken, um durch das Schiebedach zu den Sternen hinaufzusehen. Sehr vorausschauend von Dennis, sich eine Limousine mit Sonnendach zu kaufen. Eine Limousine, die mehrfach einsetzbar war - für Begräbnisse das ganze Jahr über, für Abschlussbälle im Frühjahr und für gelegentliche Hochzeiten. Wieso eigentlich nicht? All das waren wichtige Ereignisse. Ereignisse, die dem Leben eine andere Wendung gaben. Ereignisse, die regelrecht nach einer Fahrt in einer großen schwarzen Limousine schrien. Mit einem Mal musste sie an ihren Vater denken, daran, dass sie mit ihm an ihrer Seite heute wahrscheinlich niemals weggelaufen wäre. Er hätte es nicht zugelassen. »Du hast dir dein Bett gemacht, Mädchen, jetzt leg dich auch rein«, hatte er immer gesagt.
Sie blickte zum Himmel hinauf und betrachtete den Mond. Eigentlich sollte das Sonnendach eher Monddach heißen. Moon - ihr Nachname, und wie es aussah, würde er das wohl bis zum Ende ihrer Tage auch bleiben. Was stimmte nur nicht mit ihr? Wieso konnte sie nicht wie jeder andere heiraten, sich niederlassen und ein ganz normales Leben führen? Dennis war ihre letzte Chance gewesen, und sie hatte sie vermasselt, hatte sie weggeworfen ohne einen plausiblen Grund dafür. Sie könnte sich ebenso gut gleich eine Katze anschaffen und eine Stola um die Schultern legen.
Der Himmel über ihr könnte nicht schwärzer sein als die Aussicht auf ihre Zukunft - dunkel, leer und einsam, bis auf diese kalten Sterne dort oben. Eine Ehe mit Dennis wäre vielleicht nicht perfekt gewesen, aber wenigstens müsste sie nicht allein hier liegen, in unmittelbarer Nähe einer sumpfigen Wildnis mit Bären und Wölfen. Ein Ehemann hätte ihr ein sicheres Gefühl wie all den anderen Frauen verschafft. Nun würde sie sich wieder wie eine Außenstehende vorkommen, als wüssten oder besäßen sie alle etwas, nur ihr fehlte es. Die Ehe war der Schlüssel. Mit ihr bekam man das geheime Passwort in die Hand, das einem Zugang zum Club der Frauen gewährte.
Eine Stechmücke sirrte an ihrem Ohr, und sie zögerte einen Moment lang, sie zu verscheuchen. Vielleicht verdiente sie ein Schlückchen, zur Belohnung, weil sie einen Weg durch das Dickicht aus Haaren und ihres Schleiers gefunden hatte. Cassandra stand auf, umfasste die Kanten des Monddachs, trat auf den Sitz und hievte ihren Oberkörper durch die Öffnung. Es fühlte sich an, als sei sie neugeboren. Der reine Duft von Pinien und Erde drang ihr in die Nase und gab ihr das Gefühl, in einer anderen Welt zu sein.
Würde sie sich nicht so elend fühlen, hätte sie gesagt, dass diese Nacht geradezu magisch war, auch wenn dieses Wort mittlerweile vielleicht ein wenig überstrapaziert wurde. Der Himmel spannte sich dunkel und wolkenlos über ihr und war von mehr Sternen übersät, als sie je in ihrem Leben gesehen hatte. Sie glitzerten nicht, sondern sahen aus, als hätte jemand goldenen Puder über den Pinien am Straßenrand verstreut. Eine kühle Brise kam auf, so dass der Schleier an ihrem Hals kitzelte, und trug einen süßlichen Geruch heran. Geißblatt. Wie sehr sie diesen Duft liebte. Sie wünschte sich, sie fände jemals ein Parfum, das ebenso gut roch. Als kleines Mädchen hatte sie immer an den Stängeln gesogen, bis der winzige Honigtropfen zum Vorschein gekommen war, und ihn abgeleckt.
So ein winziger Tropfen. Wie viel davon wäre nötig, um einen ganzen Körper damit zu erfüllen?
Sie fuhr zusammen, als sie ein Knacken im Wald hörte, und wandte sich um, bereit, sich ins Wageninnere zurückfallen zu lassen, falls sie etwas sah, das größer als ein Hase war. Ihre Augen und Ohren fühlten sich mit einem Mal riesig an, als wären sie gewachsen, um besser sehen und hören zu können, was auf sie zukam. Als sie es nicht länger ertrug, in die dunkle Leere zu starren, blickte sie ins Wageninnere, auf ihren Körper, der zur Hälfte aus dem Schiebedach ragte. Wie ein mythologisches Geschöpf, halb Frau, halb Pferd, nur dass ihre untere Körperhälfte die Gestalt eines Autos hatte.
Wieder nahm sie das Rascheln wahr, diesmal deutlicher. Sie wünschte, sie hätte vor all den Jahren diesen Film Grizzly nicht gesehen, denn jetzt bekam sie das Bild von Andrew Pine
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