In dein Herz geschrieben
als fürchte er, etwas zu verpassen, wenn er den Blick vom Sarg löste. Also lehnte Dennis sich neben ihn an die Wand. Er stand einfach da und sah ebenfalls zum Sarg hinüber. Nach einer Weile gingen alle bis auf die Eltern. Der Vater kam herein und holte die Mutter, doch keiner beachtete den Sarg oder den Jungen. Dennis fragte sich, ob sie ernsthaft ohne ihren Sohn gehen würden. Nach etwa einer Minute kam der Vater noch einmal zurück und blieb im Türrahmen stehen. Dennis spürte, wie ein Schauder den Körper des Jungen durchlief, ehe er sich von der Wand löste und hinausging. Dennis sah keinen von ihnen jemals wieder.
Normalerweise kamen seine Eltern, um aufzuräumen, nachdem alle gegangen waren, doch an diesem Abend waren sie nirgendwo zu sehen. Schließlich sah er zufällig aus dem Küchenfenster, und da waren sie, auf der Schaukel hinter dem Haus. Der Mond stand am Himmel, und überall flogen Leuchtkäfer umher. Sein Vater saß stocksteif da, die Hände im Schoß, und seine Mutter hatte ihm den Arm um die Schultern gelegt.
Am nächsten Tag setzte sich seine Mutter mit ihm an den Tisch und erzählte ihm von einem Onkel, von dessen Existenz er noch nie gehört hatte. Er war dreizehn gewesen, als er gestorben war, dieser Onkel, und Dennis’ Vater elf. Es sei ein Unfall gewesen, genauso wie bei den beiden Jungen vom Vorabend. Sein Vater und sein Onkel hätten mit der Waffe ihres
Vaters herumhantiert, und irgendwann habe sich ein Schuss gelöst. Sein Daddy sei nie darüber hinweggekommen, sagte seine Mutter, und würde es auch niemals können. Wie gefasst er auch wirken mochte, dieses Unglück hätte ihm das Herz gebrochen, und da sie ihn liebten, sei es ihre Aufgabe, das Leben so schön wie möglich für ihn zu machen.
Es so schön wie möglich für ihn zu machen, das bedeutete, dass Dennis sich an einer Mortuary School zum Bestatter ausbilden ließ, statt auf ein reguläres College zu gehen, und dass er sich keine eigene Wohnung nahm, sondern danach wieder zu Hause einzog. Es sei doch nur für eine Weile, sagte er sich. Nur bis er herausgefunden hätte, was er in Wahrheit tun wolle. Zwanzig Jahre später war er immer noch dort.
Als er den Stadtrand erreichte, wo die Bürgersteige und die Straßenbeleuchtung endeten, blieb er stehen und blickte auf die dunkle Straße, die aus Davis wegführte. Sein Zorn war verraucht, zurück blieben lediglich eine tiefe Müdigkeit und das Gefühl, ein Idiot zu sein. Ein müder und dämlicher Mann mittleren Alters, der nicht die leiseste Ahnung hatte, was er jetzt tun sollte.
5
Gestrandet, irgendwo in der Einöde, mitten in der Nacht, und am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Genau das war sie. Gestrandet. Und schon bald nicht nur das, sondern auch gebrandmarkt. Sobald Ruth Ann allen erzählte, was sie getan hatte. Alle würden sie für einen Feigling halten, weil sie davongelaufen war. Sie würde Dennis keinen Vorwurf daraus machen, wenn er den Wagen als gestohlen melden würde, doch Ruth Ann hatte gesagt, er sei sehr lieb gewesen. Er hätte so getan, als passiere so etwas tagtäglich, und die Gäste gebeten, in den Gemeindesaal zu gehen und etwas zu essen. »Es wäre doch schade, all die schönen Speisen verkommen zu lassen«, hätte er gesagt. Ruth Ann hatte es ihm, seiner Mutter und einigen seiner Verwandten überlassen, aufzuräumen und die Stühle zusammenzuklappen. Von nun an hatte Cassandra es nicht ertragen, noch länger zuzuhören. Es warte jemand, der die Telefonzelle benutzen wolle, hatte sie behauptet. Sie hatte an einem dieser öffentlichen Fernsprecher außerhalb vor Greensboro angehalten, die man vom Wagen aus benutzen konnte, da sie nicht im Hochzeitskleid hatte aussteigen wollen.
Sie nahm die Champagnerflasche aus dem Eiskübel. Fast leer. Wie war das möglich? Sie hatte doch nur ein, zwei Schlückchen davon getrunken, gerade genug, um ihre Kehle ein wenig zu befeuchten. Trotzdem fühlte sich ihr Mund immer noch staubtrocken an. Sie öffnete die zweite Flasche und nahm einen Schluck. Sie hatte noch nie zuvor Champagner getrunken und war völlig überrascht gewesen, ihn vorzufinden, als sie auf den Rücksitz gekrochen war, um sich eine Weile hinzulegen, nachdem die Limousine liegen geblieben
war. Ruth Ann oder A. J. mussten sie dort deponiert haben, oder Ashley. Ja, wahrscheinlich war es Ashley gewesen, da es bei ihrer und Keith’ Hochzeit letztes Jahr ebenfalls Champagner gegeben hatte, obwohl die beiden nichts davon angerührt hatten.
Als kleines
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