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In deinem Schatten

In deinem Schatten

Titel: In deinem Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Hambly
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waren, ihre Jeans fein säuberlich gefaltet auf der Sofalehne lagen und die Strumpfhosen, die sie heute angezogen hatte, bevor sie zum Ballettunterricht ging, sich im Wäschekorb im Bad befanden. Die Kleidungsstücke für morgen – eine weiße Bluse und schwarze Hosen für die Arbeit, Strumpfhosen und Trikot für die Tanzstunde – lagen auf ihrer Sporttasche. Nur das rote Sweatshirt, das sie manchmal über ihrem Nachthemd trug, fehlte. Sonst nichts.
    Wie weit konnte ein Schlafwandler gehen? Maddie konnte sich nicht vorstellen, dass Tessa zum Beispiel den Aufzug bedienen konnte. Allerdings nahmen sogar die Mieter im zehnten Stock manchmal die Treppe – und aus reiner Verzweiflung über den klapprigen, winzigen Fahrstuhl. Bei der Vorstellung, wie Tessa im Nachthemd zur Treppe spazierte – schlafwandelte sie eigentlich mit geschlossenen Augen? – wurde Maddie innerlich ganz kalt. Der Gedanke, wie ihre Freundin durch die Gänge im zehnten Stock streifte, war eingedenk der widerlichen Typen, an die der Bewohner von Apartment 10 C untervermietet hatte, noch schlimmer. Maddie warf ihre Tasche auf die Couch und stürzte zurück zur Tür, als sie hörte, wie von außen ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde.
    Es war Tessa. Zitternd und in einer blauen Navy-Jacke, die viel größer und schäbiger war als ihre eigene, stolperte sie herein. Außerdem trug sie zwei Paar Wollsocken und wohlbekannte, geflickte und uralte Jeans, deren Hosenbeine hochgekrempelt waren.
    Hinter ihr stand Phil in einer schwarzen Anzughose, deren Stoff an manchen Stellen schon sehr dünn war, und mit einem Schal um den Hals. Unter seinem grünen Wollpulli trug er zwei Flanellhemden. Er sah halb erfroren aus.
    “Ich habe sie vor dem Glendower Building gefunden. Sie wollte hinein”, sagte er und führte Tessa zur Couch. Dann half er ihr, sich zu setzen, und legte ihr eine Decke über die Schultern. “Gott weiß, wie lange sie schon dort war. Aber so, wie sie angezogen ist, wahrscheinlich nicht sehr lang. Sie hatte nur ihr Nachthemd und ein Sweatshirt an …”
    “Ich muss schlafgewandelt sein.” Tessa, die vor Kälte am ganzen Körper zitterte, zog sich die dicke Bettdecke fester um die Schultern. “Du lieber Himmel,
so
weit bin ich im Schlaf noch nie gelaufen! Mein Dad hat mir erzählt, dass ich einmal aus dem Haus und ein Stück die Straße entlang gegangen bin. Da war ich ungefähr sechs. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Aber diesmal bin ich wie in einem dieser irren Träume, in denen man im Pyjama in die Schule geht, aufgewacht, und es war kein Traum, sondern echt. Ich war oben in Phils Proberaum …”
    Maddie riss die Augen auf und starrte den Mann an, der neben der Couch vor Tessa kniete. Sie musste dabei irgendeine Bewegung gemacht oder unwillkürlich einen Laut von sich gegeben haben, denn er blickte auf und bemerkte ihren wütenden Blick.
    Er sah ihr genau an, was ihr gerade durch den Kopf schoss:
Ach, tatsächlich?
    Sie wiederum merkte ihm an, wie entsetzt er war und dass er es fast nicht glauben konnte, was sie ihm unterstellte. Doch was unterstellte sie ihm eigentlich?
    Dass er Tessa aus ihrer Wohnung verschleppt hatte?
    Als Maddie die Absurdität dieses Verdachts bewusst wurde, verschwand sowohl ihre Wut, als auch das Bedürfnis, ihn argwöhnisch auszufragen, was
er
eigentlich um diese Uhrzeit vor dem Glendower verloren hatte. Stattdessen sagte sie: “Danke”, und meinte es auch so. Dann atmete sie ein paar Mal tief ein und aus, um sich zu beruhigen. “Du siehst richtig erfroren aus. In der Truhe da drüben ist noch eine Decke. Und ihr beide wirkt ganz so, als könntet ihr eine Tasse Kakao vertragen.”
    Phil stand auf. Seine Wangen waren gerötet. “Nicht nötig, danke.” Auch er klang so, als müsste er sich zwingen, ruhig zu bleiben. “Ich lasse euch beide jetzt besser schlafen …” Er rannte beinah zur Tür.
    “Nein.” Maddie stellte sich ihm schnell in den Weg. “Bitte nicht. Ich mache euch Kakao”, wiederholte sie freundlich. “Ist die Jacke, die du ihr geborgt hast, deine einzige?”
    Phil nickte und sah sie an. Auch sein Ärger verschwand, als er merkte, wie sehr sie sich für ihre unausgesprochenen Unterstellungen schämte. Er folgte ihr in die sogenannte Küche, die sich hinter einer Theke befand und in Wahrheit nur eine winzige Kochnische war. “Ich bin gerade aus der Oper zurückgekommen”, sagte er. “La Bohème – wenn man in der ‘Met’ auf den billigen Plätzen in der Galerie sitzt,

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