In deinem Schatten
fiel, und achtete darauf, wo und wann Tessa ihm über den Weg lief.
Das Ergebnis war alles andere als eindeutig. Am Nachmittag nach Maddies Traum und ihrer Befragung der Tarotkarten kam Phil ins Owl Café geschlendert, wo sie und Tessa gerade ein Sandwich aßen. Er suchte Maddies Blick und zog fragend die Augenbrauen hoch.
Ist es okay, wenn ich mich zu euch setze?
Sie sah weg, und als sie das nächste Mal wieder in seine Richtung guckte, war er verschwunden.
Was, dachte Maddie, angesichts der intensiven Erinnerung, die sie immer wieder einholte, ganz gut so war. Es war beinahe so, als hätte sie nicht nur geträumt, sondern tatsächlich seine streichelnden Hände auf ihrem Körper und seine zärtlichen Lippen auf ihrem Mund gespürt.
Falls er Tessa jemals verfolgt hatte, tat er es zumindest jetzt nicht mehr.
Und in Anbetracht des bevorstehenden Vortanzens für die American Ballett Academy bezweifelte Maddie sogar, dass Tessa es mitbekommen hätte, wenn Phil sich im Trenchcoat, mit einer Skimütze auf dem Kopf und einer Kettensäge bewaffnet hinter einer Telefonzelle versteckt und ihr aufgelauert hätte. Tessa arbeitete morgens und abends, damit sie am Tag an möglichst vielen Tanzkursen teilnehmen konnte – sogar an den Kursen für die Anfänger am Vormittag, um sich “aufzuwärmen”, wie sie sich ausdrückte – und trainierte dann bis spät in die Nacht allein weiter. Im Gegensatz zu vielen ihrer Ballettkolleginnen – die zum Teil Eltern hatten, die ihnen einen Ernährungsberater und einen Personal Trainer bezahlten – hungerte Tessa nicht absichtlich, sondern vergaß oft das Essen. Vor allem dann, wenn sie Ballettunterricht hatte.
Und derzeit hatte sie
ständig
Unterricht.
Es war gar nicht schlecht, dachte Maddie, dass auch sie selbst derzeit mit Unterrichten, Tanzen und Kartenlegen extrem ausgelastet war. Es bewahrte sie davor, sich in irgendetwas hineinzusteigern oder sich Tessa gegenüber wie eine Glucke zu benehmen. Maddie wusste aus eigener Erfahrung mit Sandy, wie leicht und auch wie gefährlich es war, die Verantwortung für das chaotische Leben eines anderen Menschen zu übernehmen. Und das war etwas, was sie nicht noch einmal tun wollte.
An Tagen, an denen Tessa um fünf Uhr morgens bei Starbucks zu arbeiten anfing und Maddie nach ihren Kursen beim YWCA – Bauchtanz und “Fit und beweglich für Fortgeschrittene” – auch noch Tarot-Sitzungen hatte, sahen sich die beiden Freundinnen erst um zehn oder elf Uhr nachts nach Tessas Ballettkurs bei Darth Irving. Wenn Maddie einen Bauchtanz-Auftritt hatte, begegneten sie sich sogar oft tagelang nicht.
“Hilfe, Hilfe, ein Fremder verschafft sich Zutritt zu meiner Wohnung!”, hatte Maddie Mittwoch Nacht theatralisch gekreischt, als Tessa um 23 Uhr nach Hause gekommen war und ihre Mitbewohnerin mit Baby auf der Couch liegend vorgefunden hatte, wo die beiden sich gerade “Casablanca” ansahen. “Kennen wir uns, Madame?”, hatte Tessa grinsend gekontert.
Und doch spürte Maddie instinktiv, dass hinter dieser Fassade der Normalität etwas nicht stimmte. Das ungute Gefühl, dass irgendetwas nicht in Ordnung war, beschlich sie immer wieder und ließ sich nicht abschütteln. Irgendjemand
war
im fünften Stock herumgeschlichen, und zwar jemand, der – vorsichtig ausgedrückt – psychisch äußerst labil war. Tessa hatte versprochen, vorsichtig zu sein, sich abends im Tanzstudio einzusperren und nicht
zu
lange dort zu bleiben. Doch immer, wenn sie versuchte, Maddie mit den Worten “Keine Sorge, Phil ist ja da” zu beruhigen, wusste Maddie nicht, was sie darauf sagen sollte.
In ihren Träumen irrte sie manchmal wieder durch das dunklen Labyrinth von Korridoren, taumelte gegen Wände, die näher und näher auf sie zuzukommen schienen, und suchte verzweifelt mit einer Taschenlampe nach einem Lichtschalter. Hörte eine tiefe, heisere Stimme hasserfülltes Zeug zischen … roch den Gestank von verschwitzter Wolle, Tabak und Aftershave.
Eines Abends, als Maddie um 22 Uhr nach ihren Tarot-Sitzungen ins Dance Loft kam, sah sie Tessa allein ihre
grand jetés
quer durch den Ballettsaal machen, während Phil sie mit einem mitreißenden Stück von Tschaikowsky am Klavier begleitete. Maddie blieb im dunklen Gang stehen, sah eine Weile zu, entfernte sich leise und unbemerkt – und hätte sich dafür auf dem Heimweg am liebsten in den Hintern gebissen. Und sie war hellwach, als sich eine Stunde später Tessas Schlüssel im Schloss umdrehte.
“Tut er das
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