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In deinem Schatten

In deinem Schatten

Titel: In deinem Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Hambly
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den Kopf, als sie ihm eine Tasse reichte. “Wir sind zu allem fähig.”
    Maddie nahm ihre eigene und Tessas Tasse und ging damit ins Wohnzimmer. Tessa lag, immer noch mit Phils zerschlissener Navy-Jacke, zusammengerollt unter der Decke und schlief tief und fest. Phil schaltete das Licht aus, und sie kehrten mit ihren Kakaotassen wieder in die Küche zurück, wo Maddie eine von den künstlichen Kerzen – das schwächste Licht, das verfügbar war – hervorholte, die sie vor ein paar Jahren für eine Halloween-Party besorgt hatte. Dann schaltete sie die Neonleuchte über dem Herd aus.
    “Darf ich ihren Marshmallow haben?”, fragte Phil, und Maddie gab ihm den Mäusespeck bereitwillig in seine Tasse. Die beiden setzten sich auf den Küchenboden, stellten die Kakaotassen und die Kerze zwischen sich, und Phil zog seinen Pullover und eines der beiden Flanellhemden aus. Maddie sah einen schwarzen Seidenschlips und ein zerknittertes, weißes Hemd hervorlugen, das er vermutlich für die Oper angezogen hatte. Gleichzeitig fiel ihr auf, dass keines seiner Kleidungsstücke nach Tabak roch – dem penetranten Gestank, der die flüsternde dunkle Gestalt umgeben hatte.
    Maddie atmete tief durch. Es war ein Gefühl, als könnte sie endlich eine misstrauisch geballte Faust wieder öffnen.
    In den vielen Jahren, seit sie die Karten legte, hatte sie genügend Leute kennengelernt, die verzweifelt versuchten, rationale Erklärungen für ihre Gefühle zu finden. Daher wusste sie, dass Phil die ganze Zeit, als sie beide herumgealbert hatten, versucht hatte, den Mut aufzubringen, einen Blick in die dunkle Truhe seiner Träume zu werfen.
    Und tatsächlich – Phil begann zu erzählen: “In der ersten Woche, als ich dort geschlafen habe, bin ich mindestens sechs oder sieben Mal in der Nacht durch die Gänge des Hauses gestreift”, sagte er. “Ich habe die Lichter eingeschaltet und gehorcht … Es war nie jemand da. Dann bin ich in mein Studio zurückgegangen und habe die Tür doppelt und dreifach hinter mir verriegelt. Ich kann dir die Sicherheitsketten und die Riegel einmal zeigen, die ich mir besorgt habe. Das war allerdings, bevor mir bewusst wurde, dass es diese Geräusche und Stimmen nur in meinen Träumen gab – in diesen furchtbaren Träumen, in denen man glaubt, man wäre wach.”
    Er hatte den Kopf leicht abgewandt und sah sie nicht an, während er erzählte. Es wirkte ein wenig so, als würde er nach einem militärischen Einsatz Rapport erstatten.
    “Wovon hast du denn geträumt?”
    “Von Mädchen”, antwortete er. “Aber nicht so, wie du denkst”, fügte er rasch hinzu und lächelte schwach. “Manchmal höre ich einfach ihre Stimmen, oder besser gesagt ihre Rufe. Einmal habe ich gehört, beziehungsweise habe geglaubt zu hören, wie eine von ihnen ‘Hör auf!’ und ‘Fass mich nicht an!’ oder so etwas Ähnliches geschrien hat … Und ich habe ihn lachen gehört.”
    “Wen?”
    “Das weiß ich nicht. Einen Mann. Dann wache ich meistens auf und merke, dass da niemand ist.” Er sah sie von der Seite an – nicht so, als sei er skeptisch, ob sie ihm glaubte, sondern so, als rechne er mit einer Reaktion, die ihm selbst bewusst machte, wie lächerlich seine Träume waren.
    Maddie fragte: “Wo bist du in deinen Träumen?”
    Welche Reaktion er auch erwartet haben mochte – möglicherweise einen ausführlichen Bericht über
ihre
übersinnlichen Träume und woher sie wusste, dass sie Teil einer Erfahrung aus einem früheren Leben waren, oder etwas ähnlich Abgehobenes –, ihre sachliche Frage schien ihn jedenfalls zu beruhigen.
    “In meinem Studio”, sagte er. “Das ist ja das Gespenstische daran. Ich liege in meinem Schlafsack auf dem Boden, und ich sehe das Klavier, das Aufnahmegerät für Musik, den Laptop und die Lautsprecherboxen, und alles ist genauso wie in Wirklichkeit auch. Aber ich höre diese Mädchen schreien, und ich schwöre dir, manchmal klingt es, als wären sie direkt vor meiner Tür. Und ich höre diesen … diesen Dreckskerl leise lachen und manchmal auch irgendetwas sagen, was ich nicht verstehe. Vor ein paar Tagen habe ich gehört, wie er ‘Ihr kleinen Flittchen seid doch alle gleich’ gesagt beziehungsweise geschrien hat. Es hat sich angehört, als stünde er keinen Meter entfernt von mir im Zimmer.”
    Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und massierte sich den Nacken – eine Bewegung, die sie ihn schon öfter hatte machen sehen.
    “Manchmal ist es auch weit weg. Oder man hört nur

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