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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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nicht aus. Was hätte Beck wohl mit Cole angefangen?
    Plötzlich erinnerte ich mich an den Hund, den Ulrik einmal von der Arbeit mit nach Hause gebracht hatte, einen fast ausgewachsenen Rottweiler, der aus unerfindlichen Gründen Chauffeur hieß. Er wog etwa genauso viel wie ich, war ein bisschen räudig um die Hüften und von überaus freundlicher Natur. Ulrik grinste selig und faselte ständig irgendwas über deutsche Polizeihunde und dass ich Chauffeur mit der Zeit lieben würde wie einen Bruder. Eine Stunde nach seiner Ankunft hatte Chauffeur bereits vier Pfund Hackfleisch vertilgt, das Cover von einer Margaret-Thatcher-Biografie heruntergekaut – ich glaube, auch der größte Teil des ersten Kapitels fiel ihm zum Opfer – und einen dampfenden Haufen auf die Couch gesetzt. Beck sagte nur: »Schaff diesen verdammten Langolier hier raus.«
    Ulrik schimpfte Beck auf Deutsch einen Wichser und verschwand mit dem Hund. Beck verbot mir, das Wort Wichser je in den Mund zu nehmen, weil das etwas sei, was dumme deutsche Männer sagten, wenn sie wüssten, dass sie unrecht hatten, und ein paar Stunden später kehrte Ulrik tatsächlich zurück, ohne Chauffeur. Ich setzte mich nie wieder auf diese Seite der Couch.
    Aber ich konnte Cole nicht rauswerfen. Für ihn ging es von hier aus nirgendwohin außer abwärts. Außerdem war es auch nicht Cole an sich, der unerträglich war. Es war Cole in unverdünnter Form, pur, ohne dass irgendetwas seine Lautstärke dämpfte.
    Alles hier war so anders gewesen, als das Haus noch voller Leute war.
    Der Song endete und für zwei Sekunden herrschte Stille im Wohnzimmer, dann plärrte der nächste Song von NARKOTIKA aus den Lautsprechern. Wie eine Explosion erfüllte Coles Stimme den Flur, noch lauter und schnodderiger als im wahren Leben:
     
    Break me into pieces
    small enough to fit
    in the palm of your hand, baby
    I never thought that you would save me
    break a piece
    for your friends
    break a piece
    just for luck
    break a piece
    sell it sell it
    break me break me
     
    Mein Gehör war nicht mehr so empfindlich wie damals als Wolf, aber es war immer noch feiner als das der meisten Menschen. Die Musik war wie ein körperlicher Angriff, wie eine feste Wand, an der ich mich vorbeizwängen musste.
    Das Wohnzimmer war leer – bevor ich wieder ging, würde ich die Musik abstellen – und ich hastete hindurch, um zur Treppe zu gelangen. Ich wusste, dass es im unteren Badezimmer eine Auswahl an Medikamenten gab, aber die waren für mich unerreichbar. Das untere Badezimmer mit seiner Wanne enthielt zu viele Erinnerungen, als dass ich es hätte betreten können. Zum Glück hatte Beck mit Blick auf meine Vergangenheit ein zweites Medikamentenlager im oberen Bad angelegt, in dem es keine Wanne gab.
    Selbst hier oben konnte ich den Bass noch unter meinen Füßen vibrieren fühlen. Ich schloss die Tür hinter mir und gestattete mir die kleine Annehmlichkeit, mir die getrockneten Seifenreste vom Autowaschen von den Armen zu reiben, bevor ich den Spiegelschrank öffnete. Er war voll mit den leicht abstoßenden Zeugnissen anderer Menschen, wie die meisten Badezimmerschränke in einem Mehrpersonenhaushalt. Salben und anderer Leute Zahncreme, längst abgelaufene Tabletten für längst vergangene Beschwerden, Bürsten, in denen Haare in anderen Farben als meiner hingen, und Mundwasser, dessen Verfallsdatum wahrscheinlich seit zwei Jahren überschritten war. Hier hätte mal aufgeräumt werden müssen. Irgendwann würde ich bestimmt dazu kommen.
    Mit spitzen Fingern fischte ich das Benadryl heraus und erhaschte beim Schließen des Schranks einen unwillkürlichen Blick auf mein Spiegelbild. Meine Haare waren länger, als ich sie jemals zuvor hatte wachsen lassen, meine gelben Augen hoben sich hell wie nie gegen die dunklen Ringe darunter ab. Aber es waren nicht meine Haare oder meine Augenfarbe, die mich genauer hinschauen ließen. Es war etwas in meinem Gesichtsausdruck, das ich nicht wiedererkannte, etwas wie eine Mischung aus Hilflosigkeit und Scheitern; wer immer dieser Sam auch war, ich kannte ihn nicht.
    Ich griff nach der Taschenlampe und der Banane, die ich auf dem Waschbeckenrand abgelegt hatte. In jeder Minute, die ich länger hierblieb, lief Grace vielleicht weiter weg.
    Ich rannte die Treppe hinunter, immer zwei Stufen auf einmal, mitten hinein in den Hexenkessel aus Musik. Das Wohnzimmer war noch immer leer, also lief ich auf die andere Seite, um die Anlage abzustellen. Es war eine seltsame

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