In deinen Augen
von mir, dass ich das Ganze so einseitig gestalte, oder? Ich rede andauernd nur über mich, wenn ich dich anrufe. Also, wie geht es dir, Isabel Rosemary Culpeper? In letzter Zeit mal gelächelt? Hot Toddies. So hieß die Band. The Hot Toddies. «
Ich fluchte, als sich mir ein Stück Draht von der Schlinge in die Handfläche bohrte. Es dauerte ein Weilchen, bis ich meine Hände von dem Gewirr aus Metall und Holz befreit hatte. Ich ließ alles vor mir auf den Boden fallen und starrte darauf. Mit diesem Scheißteil würde ich in nächster Zeit wohl nichts mehr fangen.
Ich konnte einfach abhauen. Schließlich hatte mich keiner drum gebeten, den Forscher zu spielen. Niemand hätte mich daran hindern können, mich vom Acker zu machen. Ich würde mich erst im Winter wieder in einen Wolf verwandeln und bis dahin könnte ich Hunderte von Meilen weit weg sein. Ich konnte sogar nach Hause fahren. Nur dass zu Hause nichts außer meinem schwarzen Mustang auf mich wartete. Dort hatte ich ungefähr genauso viel verloren wie hier bei Becks Wölfen.
Ich dachte an Grace’ ehrliches Lächeln. An Sams Vertrauen in meine Theorie. An die Tatsache, dass Grace meinetwegen überlebt hatte. Irgendwie hatte es etwas fast Triumphales, wieder ein Ziel im Leben zu haben.
Ich hob meine blutige Handfläche an den Mund und saugte an dem Schnitt. Dann bückte ich mich und sammelte die Einzelteile wieder ein.
Nachricht 20: »Ich wünschte, du würdest ans Telefon gehen.«
KAPITEL 5
GRACE
Ich beobachtete ihn. Ich lag im feuchten Unterholz, den Schwanz dicht an den Körper geschmiegt, erschöpft und wachsam, aber irgendwie konnte ich ihn nicht zurücklassen. Die Sonne sank tiefer und vergoldete die Blätter auf dem Boden ringsum, aber er blieb, wo er war. Seine Rufe und die Wucht meiner Faszination ließen mich erschaudern. Ich bettete das Kinn auf die Vorderpfoten, die Ohren flach an den Kopf gelegt. Der Wind trug seinen Geruch zu mir herüber. Ich kannte ihn. Alles in mir kannte ihn.
Ich wollte gefunden werden.
Ich musste weg von hier.
Seine Stimme entfernte sich, kam näher und entfernte sich dann wieder. Manchmal war der Junge so weit weg, dass ich ihn kaum hören konnte. Ich richtete mich halb auf, überlegte, ob ich ihm folgen sollte. Dann wurden die Vögel leiser, als er wieder näher kam, und ich duckte mich hastig zurück in die Büsche, die mich verbargen. Jede seiner Runden wurde ausgedehnter, der Abstand zwischen Kommen und Gehen größer. Und ich wurde immer unruhiger.
Konnte ich ihm folgen?
Wieder kam er zurück, nach einer langen Zeit in fast absoluter Stille. Dieses Mal war der Junge mir so nah, dass ich ihn von dort, wo ich reglos in meinem Versteck lag, gut sehen konnte. Einen Augenblick lang dachte ich, er hätte mich auch gesehen, aber sein Blick konzentrierte sich auf einen Punkt hinter mir. Die Form seiner Augen sandte ein nervöses Kribbeln durch meinen Magen. Etwas in mir zerrte und zupfte, meldete sich wie ein alter Schmerz. Er formte die Hände zu einem Trichter um den Mund und rief hinaus in den Wald.
Wenn ich aufstand, würde er mich sehen. Die Heftigkeit meines Wunsches, gesehen zu werden, mich ihm zu nähern, ließ ein dünnes Wimmern in meiner Kehle aufsteigen. Beinahe verstand ich, was er wollte. Beinahe »Grace?«
Das Wort durchbohrte mich wie ein Pfeil.
Der Junge sah mich noch immer nicht. Er hatte bloß seine Stimme hinaus in die Leere geworfen und wartete auf eine Antwort.
Ich hatte zu viel Angst. Mein Instinkt fesselte mich an den Boden. Grace. Das Wort hallte in mir nach und verlor mit jeder Wiederholung ein Stück seiner Bedeutung.
Den Kopf gesenkt, wandte er sich ab und entfernte sich langsam in Richtung der schräg stehenden Sonnenstrahlen, die den Waldrand markierten. Etwas wie Panik stieg in mir auf, brannte in meinem Bauch. Grace. Ich verlor die Form dieses Worts. Ich verlor etwas. Ich verlor mich. Ich stand auf. Wenn er sich jetzt umdrehte, wäre ich nicht zu übersehen, ein dunkelgrauer Wolf vor schwarzen Baumstämmen. Ich wollte, dass er blieb. Wenn er blieb, würde dieses schreckliche Gefühl in mir vielleicht nachlassen. Das Bewusstsein, hier zu stehen, völlig ungeschützt, so nah bei ihm, ließ meine Beine unter mir zittern.
Er musste sich nur umdrehen.
Aber das tat er nicht. Er ging einfach weiter und nahm das, was ich verloren hatte, mit, nahm die Bedeutung dieses Wortes – Grace – mit, ohne zu wissen, wie nah er mir gewesen war.
Und ich rührte mich nicht und sah still
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