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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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Szenerie – die Lampen neben den karierten Sofas warfen ihre Schatten in alle möglichen Richtungen und keine Menschenseele war hier, um dem Wutausbruch zu lauschen, der aus den Boxen donnerte. Es waren mehr die Lampen als die Leere, die mir dieses unbehagliche Gefühl vermittelten. Sie passten nicht ganz zur Einrichtung, mit ihren Füßen aus dunklem Holz und den cremefarbenen Schirmen; Beck hatte sie eines Tages mitgebracht, woraufhin Paul erklärt hatte, das Haus sehe nun offiziell aus wie das seiner Großmutter. Vielleicht war das der Grund dafür, dass wir die Lampen nie benutzten, wir schalteten stattdessen immer das hellere Deckenlicht ein, das die verblassten Rottöne der Couch weniger traurig aussehen ließ und zuverlässig die Nacht aussperrte. In diesem Moment aber erinnerten mich die beiden Zwillingslichtkegel der Lampen an zwei Scheinwerfer auf einer Bühne.
    Neben der Couch blieb ich stehen.
    Das Wohnzimmer war nicht leer.
    Außerhalb der Reichweite des Lichts lag ein Wolf, zuckend und bebend, die Schnauze geöffnet, sodass man seine Zähne sah. Ich erkannte die Farbe seines Fells, die starren grünen Augen: Cole.
    Der sich verwandelte. Mein Verstand sagte mir, dass er dabei sein musste, sich zu verwandeln – ob von Wolf zu Mensch oder von Mensch zu Wolf, wusste ich nicht –, doch das Unbehagen blieb. Ich beobachtete ihn eine Minute lang, wartete ab, ob ich die Tür öffnen und ihn rauslassen musste.
    Dem Dröhnen der Musik folgte Stille, als der Song endete; in meinen Ohren hallte der Rhythmus noch immer als geisterhaftes Echo wider. Ich legte meine Ausrüstung behutsam auf die Couch neben mir, die Härchen in meinem Nacken stellten sich warnend auf. Der Wolf neben der anderen Couch wurde noch immer von Zuckungen geschüttelt, sein Kopf ruckte mit unkontrollierter Heftigkeit und wie mechanisch hin und her. Er streckte alle viere stocksteif von sich. Aus seinen offenen Kiefern triefte Speichel.
    Das war keine Verwandlung. Sondern ein Krampfanfall.
    Ich zuckte vor Schreck zusammen, als ein langsamer Klavierakkord an mein Ohr drang, aber es war nur das nächste Lied auf der CD.
    Ich kroch um die Couch herum und kniete mich vor Cole. Neben ihm auf dem Teppich lagen eine Hose und, ein paar Zentimeter weiter, eine halb heruntergedrückte Spritze.
    »Cole«, stöhnte ich, »was hast du jetzt wieder angestellt?«
    Der Kopf des Wolfs zuckte zurück in Richtung der Schultern, wieder und wieder.
    Coles Stimme ertönte aus den Lautsprechern, langsam und unsicher vor der spärlichen Untermalung des einsamen Klaviers, es war ein ganz anderer Cole, als ich je gehört hatte:
     
    If I’m Hannibal
    where are my Alps?
     
    Es gab niemanden, den ich hätte anrufen können. Der Notruf schied aus. Beck war weit, weit weg. Und Karyn, meiner Chefin in der Buchhandlung, das Ganze zu erklären, würde einfach zu lange dauern, auch wenn ich darauf vertrauen konnte, dass sie unser Geheimnis bewahrte. Grace hätte mir vielleicht helfen können, aber selbst sie war im Wald und versteckte sich vor mir. Das Gefühl des drohenden Verlusts setzte sich in mir fest, als riebe in meinen Lungen bei jedem Atemzug Schleifpapier aneinander.
    Coles Körper zuckte sich durch einen Krampf nach dem anderen, sein Kopf ruckte wieder und wieder nach hinten. Die Lautlosigkeit, mit der das alles geschah, hatte etwas zutiefst Verstörendes an sich, die Tatsache, dass das einzige Geräusch, das all diese abrupten Bewegungen begleitete, das Scharren seines Kopfs auf dem Teppich war, während aus den Lautsprechern eine Stimme zu uns sang, die er nicht mehr besaß.
    Ich langte hinter mich und zog mein Handy aus meiner Gesäßtasche. Es gab nur einen Menschen, den ich anrufen konnte. Schnell tippte ich die Nummer ein.
    »Romulus«, begrüßte mich Isabel nach nur zweimal Klingeln. Im Hintergrund hörte ich Straßenlärm. »Ich hab gerade darüber nachgedacht, dich anzurufen.«
    »Isabel«, sagte ich. Aus irgendeinem Grund gelang es mir nicht, meine Stimme angemessen ernst klingen zu lassen. Es hörte sich an, als plauderte ich über das Wetter. »Ich glaube, Cole hat so was wie einen Anfall. Ich weiß nicht, was ich machen soll.«
    Sie zögerte keinen Moment. »Dreh ihn auf die Seite, damit er nicht an seiner eigenen Spucke erstickt.«
    »Er ist ein Wolf.«
    Cole wurde immer noch von Krämpfen geschüttelt, als führte er einen Krieg gegen sich selbst. In seinen Speichel mischten sich jetzt Blutstropfen. Wahrscheinlich hatte er sich auf die Zunge

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