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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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Ich konnte sehen, wie seine Haut sich noch immer spannte und sich bei jedem mühevollen Atemzug seinen Rippen anpasste. Seine grünen Augen waren halb geschlossen, jedes Blinzeln beinahe zu lang, um ein Blinzeln zu sein.
    Ich hörte, wie Isabel scharf die Luft einsog, und mir wurde klar, dass ich sie hätte auffordern sollen wegzusehen. Ich legte die Hand auf ihren Arm. Sie zuckte zusammen.
    »Alles okay?«, erkundigte ich mich.
    »Mir geht’s gut«, antwortete sie, zu hastig, als dass es die Wahrheit hätte sein können. Niemandem ging es gut, nachdem er das gesehen hatte.
    Der nächste Song auf der CD fing an, und als das Schlagzeug den Auftakt zu einem von NARKOTIKAs bekanntesten Songs heraushämmerte, lachte Cole lautlos auf, ein Lachen, in dem keine Spur von Humor lag.
    Isabel stand auf, plötzlich wutentbrannt, als wäre das Lachen eine Ohrfeige gewesen.
    »Mein Werk hier ist getan. Ich geh dann mal.«
    Coles Hand schoss nach vorn und umfasste ihren Knöchel. Er lallte: »Ischblculpepr.« Er schloss die Augen, öffnete sie wieder einen Spaltbreit. Sie waren nicht mehr als Schlitze. »Leider nicherreichbar.« Pause. »Nachem Piepton. Piep.«
    Ich sah Isabel an. Im Hintergrund droschen Victors Hände posthum auf die Trommeln ein.
    Sie sagte zu Cole: »Nächstes Mal versuch dich gefälligst draußen umzubringen. Dann muss Sam nicht die Sauerei wegmachen.«
    »Isabel«, unterbrach ich sie scharf.
    Aber Cole schien ungerührt.
    »Hab nur«, erwiderte er und hielt dann inne. Jetzt, da er seit einer Weile wieder atmete, waren seine Lippen nicht mehr ganz so blau. »Hab nur versucht rauszufinden …« Dann verstummte er ganz und schloss die Augen. An seinem Schulterblatt zuckte noch immer ein Muskel.
    Isabel stieg über ihn hinweg und schnappte sich ihre Handtasche von der Couch. Sie starrte die Banane an, die ich daneben hatte liegen lassen, die Brauen tief über den Augen zusammengezogen, als wäre die Banane, von allem, was sie heute gesehen hatte, das Unerklärlichste.
    Der Gedanke, allein mit Cole zurückzubleiben – mit Cole, wenn er so war –, war unerträglich.
    »Isabel«, sagte ich. Für einen Moment zögerte ich. »Du musst nicht gehen.«
    Sie sah wieder auf Cole hinunter und ihre Lippen pressten sich zu einem dünnen, harten Strich zusammen. In ihren langen Wimpern glitzerte etwas Feuchtes. Dann sagte sie: »Tut mir leid, Sam.«
    Sie ging und schlug die Hintertür so fest zu, dass alle Gläser, die Cole auf der Arbeitsplatte hatte stehen lassen, klirrten.

KAPITEL 8
ISABEL
    Solange ich die Tachonadel über fünfundsechzig Meilen pro Stunde hielt, war alles, was ich sah, die Straße.
    Die schmalen Sträßchen rund um Mercy Falls sahen nach Einbruch der Dunkelheit alle gleich aus. Große Bäume, kleine Bäume, Kühe, dann wieder große Bäume, kleine Bäume und schließlich Kühe. Bis zum Erbrechen. Ich jagte meinen Geländewagen um Kurven mit bröckelnden Kanten und raste ewig gleiche Geraden hinunter. Um eine Biegung brauste ich so schnell, dass mein leerer Kaffeebecher aus dem Getränkehalter flog. Der Becher knallte gegen die Beifahrertür und rollte dann durch den Fußraum, als ich die nächste Kurve nahm. Und immer noch schien es mir nicht schnell genug.
    Alles, was ich wollte, war schneller zu sein als die Frage: Was, wenn du dageblieben wärst?
    Ich hatte noch nie einen Strafzettel für zu schnelles Fahren bekommen. Einen Spitzenanwalt mit Problemen im Bereich Aggressionsbewältigung zum Vater zu haben, hatte in dieser Hinsicht einen fantastischen Abschreckungseffekt; normalerweise brauchte ich mir nur sein Gesicht vorzustellen, wenn er davon erfuhr, um schön unter dem Limit zu bleiben. Außerdem gab es hier draußen sowieso keinen Grund zum Rasen. Wir befanden uns schließlich immer noch in Mercy Falls, geschätzte Einwohnerzahl: 8. Wenn man hier zu schnell fuhr, war man, ehe man sich versah, raus aus der Stadt.
    Jetzt aber war ein Schreiduell mit einem Polizisten so ziemlich die beste Therapie, die ich mir für meinen momentanen Geisteszustand vorstellen konnte.
    Ich fuhr nicht nach Hause. Dort wäre ich von hier aus in zweiundzwanzig Minuten gewesen. Nicht lang genug.
    Das Problem war, dass er mir unter die Haut gefahren war. Ich war ihm wieder zu nahe gekommen und hatte mich mit Cole infiziert. Und damit ging eine Reihe sehr charakteristischer Symptome einher. Gereiztheit. Stimmungsschwankungen. Kurzatmigkeit. Appetitverlust. Apathischer, glasiger Blick. Erschöpfung. Fehlten nur noch Pusteln

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