Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
Vom Netzwerk:
Sonnensprenkel, beinahe heiß, wo sie mit voller Kraft durch die Bäume drangen, tanzten über den Waldboden. Eine warme Frühlingsbrise surrte durch die frischen grünen Blätter an den Zweigen. Wieder und wieder seufzte der Wald rings um mich auf. Die Natur hatte in meiner Abwesenheit ihren Lauf fortgesetzt wie eh und je und nun saß ich hier, ein kleines, undenkbares Stück Wirklichkeit, und wusste nicht, wo ich hingehörte oder was ich tun sollte.
    Im nächsten Moment fuhr mir ein weiterer warmer Windstoß, der beinahe unerträglich nach Käsecrackern roch, ins Haar und zeigte mir einen Weg auf. Hinter dem geziegelten Bungalow nebenan hatte jemand, den das schöne Wetter anscheinend optimistisch gestimmt hatte, Wäsche zum Trocknen aufgehängt. Eine ganze Leine voll sorgfältig aufgereihter Möglichkeiten. Mein Blick lag fest auf den Kleidungsstücken, die sanft im Wind schaukelten. Wer auch immer dort wohnte, war zwar eindeutig ein paar Größen über mir angesiedelt, aber eins der Kleider sah aus, als hätte es einen Gürtel um die Taille. Es könnte funktionieren. Nur dass ich dafür jemanden bestehlen musste.
    Ich hatte schon eine Menge Dinge getan, die eine Menge Menschen nicht unbedingt als richtig bezeichnet hätten, aber Stehlen hatte bisher nicht dazugehört. Nicht so. Nicht das gute Kleid von jemandem, der es höchstwahrscheinlich mit der Hand gewaschen und dann behutsam zum Trocknen aufgehängt hatte. Außerdem hingen auch Unterwäsche und Socken und Kissenbezüge auf der Leine, was bedeutete, dass die Menschen dort sich womöglich keinen Wäschetrockner leisten konnten. War ich wirklich bereit, jemandem sein Sonntagskleid zu stehlen, damit ich eine Chance hatte, zurück nach Mercy Falls zu kommen? War ich wirklich zu einem solchen Menschen geworden?
    Ich würde es zurückbringen. Wenn alles vorbei war.
    Ich schlich am Waldrand entlang, fühlte mich ungeschützt und kreideweiß und versuchte, einen genaueren Blick auf meine Beute zu erhaschen. Der Geruch nach backofenwarmen Käsecrackern – der mich als Wolf vermutlich überhaupt erst angelockt hatte – deutete darauf hin, dass jemand zu Hause war. Niemand konnte sich einfach so von diesem Geruch entfernen. Jetzt, da er mir in die Nase gestiegen war, musste ich mich beinahe zwingen, an etwas anderes zu denken. Es kostete mich alle Mühe, mich auf das vorliegende Problem des Kleiderraubs zu konzentrieren. Würden die Erzeuger des Gebäcks mich entdecken? Oder ihre Nachbarn? Wenn ich es geschickt anstellte, könnte ich den größten Teil der Zeit ungesehen bleiben.
    Der Garten meines unglückseligen Opfers war typisch für die Häuser am Rand des Boundary Wood und ich sah die üblichen Verdächtigen: Tomatenrankgerüste, eine von Hand gegrabene Grillmulde, Fernsehantennen, deren Kabel ins Nirgendwo führten. Ein Rasenmäher, halb von einer Plane bedeckt. Ein rissiges Kunststoffplanschbecken voll schmuddeligem Sand und eine Gruppe Gartenmöbel, deren plastikartige Polster ein Sonnenblumenmuster hatten. Jede Menge Zeug also, aber nichts, was sich besonders gut als Deckung nutzen ließ.
    Andererseits hatte auch niemand die einzelne Wölfin bemerkt, die den Müll an der Hintertür gestohlen hatte. Vielleicht übersahen sie auch ein nacktes Mädchen, das ein Kleid von der Wäscheleine stahl.
    Ich atmete tief durch und wünschte mir einen einzigen Moment lang von ganzem Herzen, ich müsste bloß einen Überraschungstest in Mathe schreiben oder ein Pflaster von meinem unrasierten Bein abreißen, dann rannte ich in den Garten. Irgendwo fing ein Hund an, wie wild zu bellen. Ich grapschte mir das Kleid.
    Bevor ich den nächsten Gedanken fassen konnte, war es auch schon vorbei. Ich war wieder zurück im Wald, das erbeutete Kleidungsstück in den Händen zu einem Knäuel zusammengedrückt, außer Atem und in einem Gestrüpp versteckt, das womöglich Giftefeu war.
    Hinten im Haus schrie jemand den Hund an: »Schnauze, sonst zieh ich dir das Fell ab!«
    Ich wartete, bis mein Herzschlag sich etwas beruhigt hatte. Dann zog ich mir, schuldbewusst und triumphierend zugleich, das Kleid über den Kopf. Es war ein hübsches, blau geblümtes Ding, eigentlich zu leicht für diese Jahreszeit und noch ein bisschen feucht. Ich musste es ziemlich zusammenschnüren, bis es mir einigermaßen passte, aber dann sah ich fast präsentabel aus.
    Fünfzehn Minuten später hatte ich mir von der Hintertür eines anderen Nachbarn ein paar Clogs dazu stibitzt (am Absatz des einen Schuhs

Weitere Kostenlose Bücher