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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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sich Zeit mit der Antwort; er knisterte mit irgendetwas hinter der Theke herum. »Auch einen? Nein? Tja ja, aber immerhin ist er selber einer von diesen Großstadtanwälten. Und das war doch sein Junge, den die Wölfe damals erwischt haben. Wenn’s einer schafft, da was zu bewegen, dann er. In Idaho haben sie doch das ganze Rudel ausgerottet. Oder war’s Wyoming? Irgendwo da draußen jedenfalls.«
    Das ganze Rudel.
    »Aber nicht, weil die ein bisschen Müll geklaut haben«, entgegnete Latzhose.
    »Nee, Schafe. Und wenn Wölfe Jungs töten statt nur Schafe, ist das ja wohl wesentlich schlimmer. Also schafft er’s vielleicht. Wer weiß?« Er schwieg einen Moment. »He, Fräulein? Hallo? Das Telefon ist jetzt frei.«
    Wieder regte sich mein Magen. Ich stand auf, die Arme vor der Brust verschränkt, und hoffte inständig, dass Latzhose das Kleid nicht erkannte, aber er schenkte mir nur einen flüchtigen Blick und wandte sich dann ab. Er sah auch nicht unbedingt wie der Typ Mann aus, dem Details an Frauenkleidung auffielen. Zögernd blieb ich neben ihm stehen und der alte Mann reichte mir das Telefon.
    »Dauert nur eine Minute«, versprach ich. Der alte Mann reagierte nicht, also zog ich mich in eine Ecke zurück. Die Männer unterhielten sich weiter, aber nicht mehr über die Wölfe.
    Als ich das Telefon in der Hand hielt, wurde mir klar, dass es drei Nummern gab, die ich wählen konnte. Sams. Isabels. Die meiner Eltern.
    Meine Eltern konnte ich nicht anrufen. Wollte ich nicht anrufen.
    Ich tippte Sams Nummer ein. Einen kurzen Augenblick, bevor ich auf »Wählen« drückte, holte ich tief Luft, schloss die Augen und gestattete mir, daran zu denken, wie verzweifelt ich hoffte, dass er abhob, verzweifelter, als ich mir selbst eingestehen wollte. Tränen brannten in meinen Augen und ich blinzelte entschlossen.
    Am anderen Ende klingelte es. Zweimal, dreimal. Vier. Fünf. Sechs, sieben.
    Ich musste die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass er vielleicht nicht rangehen würde.
    »Hallo?«
    Beim Klang der Stimme wurden mir die Knie weich. Ganz plötzlich musste ich mich hinhocken und mich an dem Metallregal neben mir festhalten, um nicht umzukippen. Mein gestohlenes Kleid legte sich wie ein Ring um mich auf den Boden.
    »Sam«, flüsterte ich.
    Stille. So lange, dass ich schon befürchtete, er hätte wieder aufgelegt. Ich fragte: »Bist du noch da?«
    Er stieß eine Art Lachen aus, ein seltsamer, zittriger Laut. »Ich … ich konnte nicht glauben, dass das wirklich du bist. Du bist … ich konnte nicht glauben, dass du es bist.«
    Erst jetzt wagte ich, es mir vorzustellen: wie er in seinem Auto vorfuhr, seine Arme um meinen Hals, ich in Sicherheit, ich endlich wieder ich, als müsste ich ihn nicht irgendwann wieder verlassen. Ich sehnte mich so sehr nach all dem, dass ich davon Bauchschmerzen bekam. »Kommst du mich holen?«, fragte ich.
    »Wo bist du?«
    »Ben’s Fish and Tackle. Burntside.«
    »Mein Gott.« Und dann: »Bin schon unterwegs. Zwanzig Minuten. Ich komme.«
    »Ich warte auf dem Parkplatz«, sagte ich. Ich wischte eine Träne weg, die irgendwie geflossen war, ohne dass ich es merkte.
    »Grace …« Er hielt inne.
    »Ich weiß«, sagte ich. »Ich auch.«

SAM
    Ohne Grace lebte ich in hundert anderen Momenten als dem, in dem ich mich wirklich befand. Jede Sekunde war mit irgendjemandes Musik ausgefüllt oder mit Büchern, die ich nie lesen würde. Arbeit. Brot backen. Irgendetwas, Hauptsache, ich war abgelenkt. Ich täuschte mir selbst Normalität vor. Dass ich nur noch einen Tag ohne sie sein müsste, dass der morgige sie durch meine Tür führen würde und dass das Leben dann weitergehen würde, als wäre es nie unterbrochen worden.
    Ohne Grace wurde ich zum Perpetuum mobile, angetrieben durch meine Unfähigkeit zu schlafen und meine Angst zuzulassen, dass sich die Gedanken in meinem Kopf auftürmten. Jede Nacht war eine Fotokopie eines jeden vorangegangenen Tages und jeder Tag war eine Fotokopie jeder Nacht. Alles fühlte sich so falsch an: das Haus, das bis zum Bersten mit Cole St. Clair gefüllt war und niemand anderem; meine Erinnerungen, gespickt mit Bildern von Grace, blutüberströmt, als sie sich in einen Wolf verwandelte; und daneben ich, der sich nicht verwandelte, mein Körper unberührt von der Macht der Jahreszeiten. Ich wartete auf einen Zug, der niemals in den Bahnhof einfuhr. Aber ich konnte nicht aufhören zu warten, denn wer wäre ich dann noch? Ich betrachtete meine Welt wie in einem

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