In deinen Augen
fragte ich. »Und Isabel D.?«
»Ja«, antwortete Isabel, führte das jedoch nicht weiter aus. »Hast du schon Sam angerufen?«
»Da geht keiner ran.« Sein Handy hatte sofort auf Mailbox geschaltet; wahrscheinlich hatte er den Akku wieder leer werden lassen. Und im Haus hatte auch niemand abgehoben. Ich gab mir Mühe, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Isabel würde es nicht verstehen und mir stand im Moment genauso wenig der Sinn danach, meine Sorgen mit jemandem zu teilen, wie Isabel.
»War bei mir genauso«, bestätigte Isabel. »Ich hab ihm im Buchladen eine Nachricht hinterlassen.«
»Danke«, sagte ich. Aber um ehrlich zu sein, hatte ich das Gefühl, dass ich mich bald schon wieder verwandeln würde. In letzter Zeit waren meine Phasen als Mensch, in denen ich mich unangenehmerweise immer wieder in mir völlig fremden Teilen des Waldes wiederfand, zwar schon deutlich länger, aber bisher schien es, als könnte ich diesen Zustand höchstens eine Stunde aufrechterhalten. Manchmal blieb ich kaum lange genug menschlich, um den Körperwechsel in meinem vor Kurzem noch wölfischen Gehirn zu registrieren. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war. All diese Tage, die schweigend an mir vorbeimarschierten …
Ich strich dem Wolf über die Nase. Sie fühlte sich staubig und hart an, als streichelte ich ein Bücherregal. Ich wünschte, ich wäre in Becks Haus und läge schlafend in Sams Bett. Oder meinetwegen sogar bei mir zu Hause, bereit, den versäumten Unterrichtsstoff in Angriff zu nehmen. Aber die drohende Verwandlung zum Wolf ließ alle anderen Sorgen in meinem Leben geradezu zwergenhaft erscheinen.
»Grace«, sagte Isabel. »Mein Vater versucht, seinen Abgeordnetenfreund dazu zu kriegen, dass er ihm hilft, den Artenschutz der Wölfe aufheben zu lassen. Er will eine Treibjagd organisieren, aus der Luft.«
Wieder zog sich mein Magen zusammen. Ich schlenderte über den wunderschönen Parkettboden weiter zum nächsten Tier, einem erstaunlich riesigen Hasen, für immer mitten im Sprung erstarrt. Zwischen seinen Hinterbeinen spannte sich ein Spinnennetz. Tom Culpeper – musste er denn immer noch Jagd auf die Wölfe machen? Konnte er nicht endlich damit aufhören? Aber ich wusste, dass er das nicht konnte. Für ihn war es keine Rache, sondern reine Prävention. Ein Kampf für die gerechte Sache. So glaubte er, andere Leute davor bewahren zu können, dasselbe Schicksal zu erleiden wie sein Sohn. Wenn ich mir wirklich, wirklich Mühe gab, konnte ich das Ganze aus seinem Blickwinkel betrachten und für vielleicht zwei Sekunden aufhören, ihn als Monster zu sehen, Isabel zuliebe.
»Also echt, genau wie Sam!«, fauchte Isabel. »Du verziehst ja keine Miene. Glaubst du mir etwa nicht?«
»Doch, ich glaube dir«, sagte ich. Ich betrachtete unsere Spiegelbilder in dem glänzend polierten Holz. Die unscharfe, wellige Form meiner menschlichen Gestalt zu sehen, stimmte mich außerordentlich froh. Plötzlich ergriff mich Wehmut, als ich an meine Lieblingsjeans dachte. Ich seufzte auf. »Ich hab nur langsam genug von dem Ganzen. Ist einfach ziemlich viel, um das ich mich kümmern muss.«
»Ja, aber irgendwer muss sich nun mal drum kümmern. Ob’s dir passt oder nicht. Und Sam ist ungefähr so pragmatisch wie …« Isabel verstummte. Offenbar fiel ihr nichts ein, was noch weltentrückter war als Sam.
»Ich weiß, dass wir uns darum kümmern müssen«, seufzte ich erschöpft. In meinem Magen zuckte es wieder. »Wir müssten es irgendwie schaffen, sie woanders hinzubringen, aber ich kann im Moment nicht darüber nachdenken, wie wir das anstellen sollen.«
»Sie woanders hinbringen?«
Langsam ging ich weiter zum nächsten Tier. Eine Art von Gans, die mit gespreizten Flügeln auf der Stelle lief. Wahrscheinlich sollte es aussehen, als würde sie gerade landen. Die schräg einfallende Nachmittagssonne spielte meiner Wahrnehmung einen Streich und ließ es wirken, als zwinkerte die Gans mir mit ihrem schwarzen Auge zu. »Na ja, wie es aussieht, müssen wir sie vor deinem Dad in Sicherheit bringen. Er wird nicht aufhören. Es muss doch irgendeinen besseren Ort geben.«
Isabel lachte, ein kurzer Laut, der eher einem Zischen als einem Ausdruck von Fröhlichkeit ähnelte. »Wahnsinn. Da zerbrechen sich Sam und Cole seit zwei Monaten den Kopf darüber und dir fällt nach zwei Sekunden was ein.«
Ich blickte sie an. Auf ihrem Gesicht lag eine Art Schmunzeln, eine Augenbraue hochgezogen. Vermutlich sollte
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