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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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Richtung der anderen Tür.
    Natürlich würde er an meinem Auto nichts finden. Aber er untersuchte es so lange und gründlich, dass mir genügend Zeit blieb, um zurück ins Klavierzimmer zu huschen und nachzusehen, ob Grace den Steinway schon zu Kleinholz verarbeitet hatte. Alles, was ich fand, war ein offenes Fenster, dessen Fliegengitter draußen im Garten lag. Ich beugte mich hinaus und erhaschte einen Blick auf etwas Gelbes – mein Santa-Maria-Academy-T-Shirt, das in einem Strauch hing.
    Grace hätte sich keinen schlechteren Zeitpunkt aussuchen können, um da draußen als Wolf herumzulaufen.

KAPITEL 14
SAM
    Und ich hatte Grace schon wieder verpasst. Nach unserem Telefonat verbrachte ich Stunden mit – gar nichts. Ich war noch immer komplett vom Klang ihrer Stimme in den Bann gezogen und so jagte einer meiner Gedanken den nächsten, kreisten dieselben müßigen Fragen immer wieder in meinem Kopf. Ich fragte mich, ob ich Grace womöglich noch erwischt hätte, wenn ich ihre Nachricht früher erhalten hätte, wenn ich nicht zum Schuppen rausgegangen wäre, um nach Lebenszeichen zu suchen, wenn ich nicht tiefer in den Wald gegangen wäre und durch die Birkenblätter zum Himmel hinaufgeschrien hätte, frustriert über Coles Anfall und Grace’ Abwesenheit und über die schiere Last, ich zu sein.
    Ich ertrank in meinen unbeantworteten Fragen, bis es schließlich dunkel wurde. Stunden waren vergangen, so als hätte ich mich verwandelt, doch ich hatte meine Haut nie verlassen. Es war Jahre her, seit mir die Zeit derart abhandengekommen war.
    Das war einmal mein Leben gewesen. Stundenlang hatte ich aus dem Fenster gesehen, bis meine Beine unter mir einschliefen. Damals, als ich gerade zu Beck gekommen war – ich musste ungefähr acht Jahre alt gewesen sein, nicht lange, nachdem meine Eltern mir meine Narben verpasst hatten. Manchmal hob Ulrik mich dann unter den Achseln hoch und schleifte mich mit in die Küche, in ein Leben voll anderer Menschen, aber dort war ich nur ein stiller, zitternder Beobachter. Stunden, Tage, Monate vergingen, verschluckt von einem Ort, der weder Sam noch den Wolf einließ. Es war Beck, der den Bann schließlich brach.
    Er hielt mir ein Taschentuch hin und dieses Geschenk war seltsam genug, um mich zurück in die Gegenwart zu holen. Wieder wedelte er mir damit vor der Nase herum. »Sam. Dein Gesicht.«
    Ich fasste mir an die Wangen, sie waren weniger feucht als vielmehr klebrig von der Erinnerung an einen stetigen Tränenstrom. »Ich hab nicht geweint«, erklärte ich ihm.
    »Das weiß ich«, antwortete Beck.
    Während ich mir das Taschentuch ins Gesicht drückte, sagte Beck: »Ich will dir mal was erzählen. In deinem Kopf sind leere Kartons, Sam.«
    Verwirrt sah ich ihn an. Wieder war diese Vorstellung seltsam genug, um meine Aufmerksamkeit zu fesseln.
    »Da drin sind sogar eine ganze Menge leere Kartons und du kannst Sachen hineinpacken.« Beck gab mir ein zweites Taschentuch, für meine andere Wange.
    Zu diesem Zeitpunkt war mein Vertrauen in Beck noch nicht vollständig aufgebaut; ich erinnere mich, dass ich zuerst dachte, das Ganze wäre ein ziemlich schlechter Witz, den ich nicht kapierte. Meine Stimme klang argwöhnisch, sogar in meinen eigenen Ohren. »Was für Sachen?«
    »Traurige Sachen«, erwiderte Beck. »Hast du viele traurige Sachen in deinem Kopf?«
    »Nein«, sagte ich.
    Beck sog die Unterlippe ein und ließ sie langsam wieder los. »Tja, ich schon.«
    Das schockierte mich. Ich fragte nicht nach, aber ich beugte mich ein Stück weiter vor.
    »Und diese Sachen würden mich zum Weinen bringen«, fuhr Beck fort. »Früher hab ich deswegen oft den ganzen Tag geweint.«
    Ich erinnerte mich, wie ich damals dachte, dass das bestimmt gelogen war. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie Beck weinte. Er war ein Fels. Selbst jetzt, die Finger auf den Boden gestützt, wirkte er so gefasst, so selbstsicher, so unzerstörbar.
    »Glaubst du mir nicht? Frag Ulrik. Der musste sich damit rumschlagen«, sagte Beck. »Und weißt du, was ich mit diesen traurigen Sachen gemacht habe? Ich hab sie in Kartons gesteckt. Ich hab die traurigen Sachen in Kartons in meinem Kopf gesteckt und dann hab ich die Deckel zugemacht und sie mit Klebeband verschnürt und sie in der Ecke aufgestapelt und ein Tuch drübergeworfen. Das sah dann aus wie oben bei uns auf dem Speicher.«
    »Ein Gehirn speicher?«, erkundigte ich mich mit einem kleinen Grinsen. Na ja, ich war acht.
    Beck lächelte, ein seltsam persönliches

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