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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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ganz so anfühlten wie eine Krankheit.
    Ich schloss die Augen.

KAPITEL 11
GRACE
    In der ersten Zeit als Wolf hatte ich keine Ahnung vom Überleben.
    Als ich das erste Mal zum Rudel stieß, überwog mein Nichtwissen bei Weitem mein Wissen: Wie jagte man, wie fand man die anderen Wölfe wieder, wenn man sich verirrt hatte, wo schlief man? Ich konnte nicht mit den anderen sprechen. Ich verstand die verwirrende Fülle von Gesten und Bildern nicht, die sie benutzten. Eins aber wusste ich: Wenn ich meiner Angst nachgab, würde ich sterben.
    Als Erstes lernte ich, das Rudel zu finden. Und zwar durch puren Zufall. Allein und hungrig und mit einer Leere in mir, die Nahrung nicht füllen würde, hatte ich verzweifelt den Kopf in den Nacken gelegt und in die kalte Dunkelheit hinausgerufen. Es war mehr ein Wehklagen als ein Heulen, nackte Einsamkeit. Der Laut hallte von den Felsen neben mir wider.
    Und dann, ein paar Augenblicke später, hörte ich eine Antwort. Ein quietschendes Jaulen, das nicht lange anhielt. Dann noch einmal. Es dauerte ein bisschen, bis ich begriff, dass eine Reaktion von mir erwartet wurde. Ich heulte erneut auf und der andere Wolf antwortete sofort. Der Laut war noch nicht verklungen, als ein weiterer Wolf anfing, dann noch einer. Falls ihre Rufe ein Echo hatten, konnte ich es zumindest nicht hören; sie waren weit weg.
    Aber was bedeutete schon weit weg? Dieser Körper ermüdete nie.
    So lernte ich, die anderen Wölfe zu finden. Es dauerte Tage, bis ich die Dynamik des Rudels verinnerlicht hatte. Da war der große schwarze Wolf, eindeutig unser Anführer. Seine stärkste Waffe waren seine Augen: Ein strafender Blick und das betreffende Rudelmitglied lag flach auf dem Bauch. Jedes außer dem großen grauen Wolf, der beinahe ebenso angesehen war: Er legte lediglich die Ohren an und senkte, nur leicht unterwürfig, den Schwanz.
    Von ihnen lernte ich die Sprache der Dominanz. Die Zähne gebleckt. Die Lefzen zurückgezogen. Das Nackenfell aufgestellt.
    Und von den untersten Rudelmitgliedern lernte ich, was Unterwerfung bedeutete. Den Bauch zum Himmel gewandt, den Blick gesenkt, den ganzen Körper zusammengekauert, um möglichst klein zu wirken.
    Jeden Tag aufs Neue wurde der rangniedrigste Wolf, ein kränkliches Tier mit einem Triefauge, an seine Stellung erinnert. Die anderen schnappten nach ihm, drückten ihn zu Boden, ließen ihn erst als Letzten fressen. Ich dachte, den niedrigsten Rang zu bekleiden, wäre hart, aber es konnte noch schlimmer kommen: wenn man komplett ignoriert wurde.
    Eine weiße Wölfin trieb sich immer in der Nähe des Rudels herum. Sie war praktisch unsichtbar. Niemand berücksichtigte sie beim Spielen, nicht einmal der graubraune Clown des Rudels. Er spielte sogar mit Vögeln, aber nicht mit ihr. Auf der Jagd war sie nicht existent, niemand traute ihr, niemand beachtete sie. Aber die Art, wie das Rudel sie behandelte, war nicht völlig ungerechtfertigt: Genau wie ich schien sie ihre Sprache nicht zu sprechen. Oder vielleicht war meine Einschätzung auch zu wohlwollend. Es wirkte eher, als hätte sie keinerlei Interesse daran, ihr Wissen zu nutzen.
    In ihren Augen lauerten Geheimnisse.
     
    Die einzige Gelegenheit, bei der ich sie mit einem anderen Wolf interagieren sah, war, als sie den Grauen anknurrte und er sie angriff.
    Ich dachte, er würde sie töten.
    Aber sie war stark; nachdem die beiden sich eine Weile im Unterholz gebalgt hatten, griff der Clown schließlich ein und warf sich zwischen die beiden kämpfenden Wölfe. Er wollte immer den Frieden bewahren. Doch nachdem der graue Wolf sich geschüttelt hatte und davongetrottet war, wandte sich der graubraune Clown noch einmal der weißen Wölfin zu und bleckte die Zähne, um sie daran zu erinnern, dass er, auch wenn er den Kampf unterbrochen hatte, nichts mit ihr zu tun haben wollte.
    Danach beschloss ich, auf keinen Fall so zu werden wie sie. Selbst der Omegawolf wurde besser behandelt. In dieser Welt war kein Platz für Außenseiter. Also kroch ich auf den schwarzen Alphawolf zu. Ich versuchte, an alles zu denken, was ich gesehen hatte; mein Instinkt flüsterte mir zu, an was ich mich nicht mehr richtig erinnern konnte. Ohren anlegen, den Kopf schräg halten, zusammenkauern. Ich leckte sein Kinn und bat so um Aufnahme ins Rudel. Der Clown beobachtete die Begegnung; ich sah zur Seite und schenkte ihm ein wölfisches Grinsen, gerade so lange, dass er es mitbekam. Ich bündelte meine Gedanken und schaffte es, ihm ein Bild zu

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