In deinen schlimmsten Träumen: Roman (German Edition)
Menschen, denen es nur darum ging, dem System eins auszuwischen, koste es, was es wolle. Sie sorgten dafür, dass Vergewaltiger und Mörder auf freiem Fuß blieben – um erneut zu vergewaltigen und zu morden -, nur um ihres Egos und des Geldes willen.
Bittere Galle stieg ihr die Kehle hoch, und Anya fragte sich, wie sie in einem System, an das sie den Glauben verlor, weiterhin arbeiten und es unterstützen konnte.
10
Anya blieb gerade noch die Zeit für einen letzten Blick auf das Make-up, bevor sie den Konferenzraum des Komitees für Qualitätssicherung im Gesundheitsministerium betrat. Normalerweise legte sie keine Grundierung auf, heute aber brauchte sie die zusätzliche Kriegsbemalung, um es mit der geballten Bürokratie und den Fraktionen schmiedenden Beamten bei diesem Treffen aufnehmen zu können. Für die meisten war die Arbeit in einem Zentrum für sexuelle Übergriffe eine notwendige Dienstleistung an der Gesellschaft, manche aber sahen darin eine Karrierechance und waren bereit, alles zu vernichten, was sich ihrem Aufstieg in den Weg zu stellen drohte.
Auf der Toilette im dritten Stock legte die Aggressivste aus dieser Meute, Dr. Lyndsay Gatlow, gerade letzte Hand an ihre blutroten Lippen. Als Koordinatorin der regionalen Stationen für sexuelle Übergriffe, Süd, war sie nicht gerade für ihr Feingefühl bekannt, was durch das kanariengelbe Kostüm, das sie trug, noch einmal nachdrücklich unterstrichen wurde.
»Wird sicher eine interessante Besprechung.« Sie grinste ihr Spiegelbild an. »Das Ministerium macht zunehmend Druck, um uns durch qualifiziertes Pflegepersonal zu ersetzen. Wenn wir nicht schnell handeln, sitzen am Ende des Jahres etliche von uns womöglich auf der Stra ße.«
Anya wusch sich die öligen Make-up-Reste von den Händen. »In England hat das zu einem finanziellen Desaster geführt. Drei Krankenschwestern in Acht-Stunden-Schichten kommen teurer als eine Ärztin, die sieben Tage rund um die Uhr Bereitschaftsdienst macht. Rechnet man dann auch noch den Urlaub und die Rentenansprüche der Schwestern ein, explodieren die Kosten.«
»Vollkommen Ihrer Meinung. Freut mich, dass wir auf derselben Seite stehen.«
Mit diesen Worten verabschiedete sich die Löwin im Kanarienkostüm, um sich an ein nichtsahnendes Opfer heranzupirschen.
Wie man es von ihr erwarten durfte, erschien Lyndsay Punkt neun Uhr wie aus dem Nichts mit einem gewaltigen Stapel Unterlagen im Konferenzzimmer.
»Guten Morgen in die Runde, wir haben heute viel zu tun. Wenn also bitte jeder seinen Platz einnehmen würde.« Sie ließ sich am Kopf des Tisches nieder. »Heute erwarten wir Jennifer Beck von der Oberstaatsanwaltschaft unter uns, ich glaube, ich muss sie hier nicht eigens vorstellen. Sie möchte darüber diskutieren, wie sich die Sicherstellung von Beweismaterial effizienter gestalten lässt.«
Gehorsam nahmen die sechs Ärztinnen und Ärzte sowie vier Sozialarbeiterinnen neben einem Kriminalpolizisten der Abteilung für Beweissicherung und einer Vertreterin des Ministeriums Platz.
Anya warf Mary Singer, einer von zwei Anwesenden, die sie als Verbündete betrachtete, einen kurzen Seitenblick zu. Mary zwinkerte zurück.
Ohne weitere Formalitäten wurde ein Papier ausgeteilt, auf dem Anyas Name stand.
Ihr Puls ging schneller, als sie das Schriftstück erkannte. Es war ein privater Brief, den einer der führenden britischen Rechtsmediziner ihr zum Thema Fotografie bei sexuellen Übergriffen geschrieben hatte – Lyndsay Gatlows Lieblingsthema. Und jenes Thema, von dem sie hoffte, es würde sie zur Bundesdirektorin der Stationen für sexuelle Übergriffe machen, als die sie dann auch verantwortlich für die Auswahl und, in Anyas Fall, die Entlassung von Personal wäre.
Bisher war es Gatlow gelungen, die Polizei davon zu überzeugen, dass Fotos vor Gericht unschätzbare Dienste leisten würden. Theoretisch klang das ja auch gut: Wenn ein Tatortfoto überzeugen konnte, sollten dann anatomische Fotografien nicht weitaus nachhaltiger wirken als die mündliche Aussage eines Experten? Und was noch schlimmer war, sie war überzeugt davon, diese Beweise wären unwiderlegbar.
Anyas Erfahrungen ließen das Gegenteil erwarten. Fotos konnten fehlinterpretiert werden, und es war nicht möglich, ihre Nutzung zu kontrollieren. In ihren Augen bedeutete es nur eine weitere Schändung des Opfers, wenn Anwälte und sogar die Vergewaltiger selbst sich Aufnahmen der Geschlechtsteile ansahen.
Detective Chief Inspector Haddock
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