In deiner Hand
nicht so wollte, wie ich es gern gehabt hatte. Die Schulter und der Ellenbogen pochten bei jeder Bewegung. Ein Arztbesuch kam aber überhaupt nicht in Frage! Zu einer Blutabnahme würde man mich vielleicht nicht zwingen, aber unser Hausarzt würde meine Mutter sicherlich davon in Kenntnis setzen, dass ich mich vehement dagegen gewehrt hatte – Schweigepflicht hin oder her, denn der Arzt war so verknallt in meine Mum, dass er immer nach einem Grund suchte, bei uns anzurufen und sie zu texten zu dürfen. Natürlich hatte Mum ein offenens Ohr für unseren Arzt! Immer! Sie war viel zu nett, als dass sie ihn abwürgen oder einfach auflegen würde. Eine ihrer, meiner Meinung nach, schlechten Eigenschaften. Mum war viel zu gutherzig für diese Welt. Und diese Welt wusste das ganz geschickt auszunutzen. Immer wieder trudelten Nachbarn bei uns ein, die in den Urlaub düsten und uns ihren Haustürschlüssel aufs Auge drückten, damit wir deren Blumen gossen. Oder Mum kam mit einer Packung Zement aus dem Baumarkt, weil der neue Azubi sie mit seiner Fachkompetenz so beeindruckt hatte, dass sie nicht „Nein“ sagen konnte. Sie ließ sich viel zu schnell um den Finger wickeln! Kein Wunder, dass sie mit dreizehn bereits schwanger war und dem Typen, der immerhin schon achtzehn Jahre auf dem Buckel hatte und sie sitzen ließ, keine Vorwürfe machte. Natürlich war sie ganz allein Schuld an allem. Ganz gleich was ihr wiederfuhr, niemals trug jemand anderes die Schuld daran.
Ich war ihr optisch zwar so ähnlich, dass wir schon fast als Zwillinge durchgingen, aber im Gegensatz zu Mum, nahm ich nie ein Blatt vor den Mund. Ich ließ mir weder etwas aufschwatzen, noch ließ ich mich dazu hinreißen, jemanden Honig ums Maul zu schmieren. Ich war immer ehrlich und offen und machte mir nie Gedanken darüber, wie sich mein Gegenüber wohl fühlte, wenn ich demjenigen meine Meinung ins Gesicht spuckte. Ich hatte auch kein Problem damit, meinen Worten mit Gewalt Ausdruck zu verleihen. Die einen nannten mich rüpelhaft, die anderen Kampfschlampe, wiederum andere neigten dazu, mich kaltherziges Miststück zu nennen.
Kurz linste ich an meinem Körper herunter. „Kaltherziges, scharfes Miststück!“, murmelte ich und wackelte ein bisschen mit meinem Hintern und griff an meine großen Brüste. „Und keiner von euch Luschen wird je in diesen Genuss kommen!“ Genau zwei Sekunden verstrichen, ehe ich wieder in Tränen ausbrach. Speichel sammelte sich in meinem Mund. Ich hechtete zum Klo und kotzte mir die Seele aus dem Leib. Ich hasste meinen Po, meine Brüste, die vollen Lippen – Kussmund nannte
er
ihn – diese großen, grünen Augen. Ich hatte meine hüftlangen Haare gehasst und damals gehofft, dass es mir besser gehen würde, wenn ich sie einfach kürzte. Ich war versucht gewesen, mir eine Glatze zu schneiden, aber das hätte dann doch zu viel Aufmerksamkeit auf mich gezogen. Warum hatte Gott mich und meine Mum nicht hässlich wie die Nacht gemacht? Wie oft stand ich hier im Badezimmer, nackt, und starrte mich im Spiegel an? Mit zwölf Jahren waren mir die älteren Jungen schon in Scharen nachgerannt. Bauarbeiter pfiffen mir nach und sogar einige der Lehrer an meiner alten Schule. Wie oft „rutschte“ jemandem die Hand aus? Meine Hände zitterten heftig. Ganz automatisch griff ich zur Nagelschere, hob sie an mein Gesicht. Nur ein einziger Schnitt würde mein Leben zurück ins Gleichgewicht bringen! Sehnsucht erfüllte mich, ließ mein Herz schneller schlagen. Ein Narbe, eine einzige Narbe und man würde mich behandeln wie jedes andere, durchschnittliche Individuum auf dieser Erde. Seit zwei Jahren ernährte ich mich offiziell gesund. Heimlich stopfte ich mir schon mal gerne Burger und Pizza rein. Wenn solche Ausrutscher geschahen, trainierte ich härter als gewöhnlich. Ein Gramm zu viel und Mum wäre geliefert. Eine Narbe … eine einzige Narbe in meinem Gesicht würde ihren Untergang bedeuten.
Er
würde Mum töten.
Er wird durchdrehen!!!
„SCHEISSE!“, schrie ich und spuckte auf den Spiegel. Irgendetwas krachte gegen die Wand. Der Duft von Kamille, Zitrusfrüchten und Apfel breitete sich im Badezimmer aus. Ich zog den Arm zurück und ballte die Hände zu Fäusten. Wie sollte ich
ihm
erklären, was passiert war? Immerhin war mir verboten worden, Skateboard zu fahren. Ich durfte mich nur im Bus fortbewegen und nur das hatte
er
akzeptiert, weil ich
ihm
klarmachte, dass es zu auffällig war, wenn mich jeden Morgen eine Limousine zur
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