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In Den Armen Der Finsternis

Titel: In Den Armen Der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjorie M. Liu
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würden. Etwas von mir würde sterben, wenn diese Schreie aufhörten.
    Bitte, bettelte ich. Bitte.
    Die Jungs trampelten förmlich über meine Haut. Meine rechte Hand schien zu brennen. Es wurde hell, und plötzlich konnte ich wieder sehen. Aber ich sah nicht die Männer, sondern nur die Fingerrüstung: Sie glühte, als wäre sie von Mondlicht und Perlen erfüllt und durchdrang die Schatten, die sich langsam und leicht um mein Herz wanden. Das Licht ließ mich an meine Mutter denken, an ihre Worte - pass auf, Baby, nimm dich in Acht. Und im gleichen Moment, als wäre schon die Erinnerung an sie ein Gegenmittel, zog sich die schlängelnde Gegenwart unter meiner Haut zurück. Die Dunkelheit war verschwunden,
aber ihre Abwesenheit fühlte sich an, als hätte man meiner Seele die Zähne gezogen und empfindliche Löcher darin zurückgelassen. Mir zitterten die Knie, und kalte Schauer liefen über meinen Rücken. Es war ein Schock.
    Aber ich stemmte mich einfach dagegen. Ich pflanzte meine Füße in den Boden und tat so, als bestünde ich aus Stein. Kein Lächeln mehr, nie mehr. Ich hatte mich immer gefragt, wie es sich anfühlen mochte, wenn man besessen war - und jetzt hatte ich schon wieder einen Vorgeschmack darauf bekommen.
    Ich hasste es. Ich hasste es, dass ich mich so leicht verlieren konnte, nur an mich selbst verlieren, ohne zu verstehen, ohne auch nur den kleinsten Hinweis darauf zu haben, warum oder was in mir war. Ich ballte die Faust - und das Licht in dem Ring erlosch. Jetzt endlich sah ich die Männer.
    Sie lebten noch, jedenfalls mehr oder weniger. Und ich berührte sie.
    Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass ich mich ihnen genähert hätte. Ich wusste auch nicht mehr, dass ich sie angefasst hatte. Und dennoch stand ich vor einem Haufen von Gliedmaßen, die immer noch mit Körpern verbunden waren. Und meine Arme steckten bis zu den Ellbogen in dem Knäuel aus Extremitäten. Ich starrte sie entsetzt an. Die Männer lagen so dicht zusammen, waren so eng miteinander verflochten, dass es fast so aussah, als wären sie dort, wo sie standen, zerstückelt worden, und dann zu einem einzigen Wesen auf dem Boden verschmolzen.
    Aber sie waren noch getrennt: Hände zuckten und Köpfe nickten spastisch. Es waren kräftige, starke Männer, die immer noch lebten, aber auf ihren Gesichtern war der Ausdruck von Qual und Entsetzen eingefroren. Dabei hatten sie ihre Münder zu lautlosen, qualvollen Schreien aufgerissen.

    Ich stolperte zurück und riss meine Hände heraus. Ich umklammerte noch immer das Messer, aber die Klinge lag flach an meinem Unterarm. Die Schneide war nicht blutig. Ich hatte niemanden erstochen, sondern sie nur durch eine Berührung in sabbernde Idioten verwandelt.
    Mir wurde ganz schlecht. Ich presste meine Hände auf den Magen, dann umklammerte ich mit der Linken meine Rechte, und zwar so fest, als versuchte ich, mich von etwas zu befreien, vielleicht sogar von mir selbst. Die Fingerrüstung fühlte sich trotz meiner Tätowierungen recht warm an - die Jungs regten sich, schienen ziemlich unruhig zu sein. Der Sonnenuntergang verschlang mich. Es dauerte höchstens noch Sekunden.
    »Warum?«, fragte ich die Männer flüsternd. Sie schienen nichts mehr wahrzunehmen, mit Ausnahme ihres eigenen Atems vielleicht. Sie hatten mittlerweile den Punkt aller Schuld überschritten und waren ganz gewiss nicht mehr in der Lage, irgendeine wahnsinnige Frage beantworten zu können, auf die sich mein Hirn vergeblich fixiert hatte.
    »Weil du bist, wer du bist«, antwortete eine uralte, tiefe Stimme direkt hinter mir. »Und weil du einen Schlüssel zum Labyrinth an dir trägst.«
    Ich wollte mich schon umdrehen, aber kräftige Hände packten meine Schultern und zogen mich an eine warme Brust, die nach Leder und Büchern roch - oder die vielleicht auch nach den Männern roch, die auf den Ranches in Montana arbeiteten, diesen alten Cowboys, die durch Staub und Sonnenlicht abgehärtet waren.
    »Liebes Mädchen«, flüsterte Jack Meddle, mein Großvater. »Du steckst in sehr großen Schwierigkeiten.«
    Mit diesen Worten zog er mich aus dieser Welt in den Abgrund hinab.

7
    I n der Dunkelheit erinnerte ich mich wieder daran, wie es sich anfühlte, wenn man sich verirrt hatte.
    Dabei hatte ich versucht, es zu vergessen. Ich hatte mich bemüht, nicht von der Ödnis zu träumen, von der endlosen Nacht des Verlieses im Labyrinth. Und obwohl ich wusste - ich wusste es genau -, dass dies nicht dasselbe war, starb doch etwas

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