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In Den Armen Der Finsternis

Titel: In Den Armen Der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjorie M. Liu
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Chartres in Frankreich gesehen hatte: vier Quadranten, elf Kreise und in der Mitte eine Rosette, die an die vier Arme des Kreuzes erinnerte. Das Labyrinth von Chartres wurde auch Straße nach Jerusalem genannt und hatte früher als Ersatz für die eigentliche Pilgerfahrt dienen sollen. Man hatte es als Teil einer Prüfung beschritten, als eine Reise zu Gott und auf die Erleuchtung zu.
    Aber irgendwie beschlich mich das Gefühl, dass diese Tätowierung eine andere Bedeutung hatte. Als sich der Mann umdrehte, um sein Sweatshirt wegzuwerfen, sah ich eine andere
Tätowierung auf seinem Rücken: ein großes, schwarzes Kreuz. Es mochte an der Krümmung seines Rückens liegen oder an der Bewegung seiner Schulterblätter, aber diese Tätowierung wirkte gewunden, schief, und als ich sie genauer ansah, verschwamm sie vor meinen Augen. Mein Herz machte einige merkwürdig schmerzhafte Schläge.
    Der Mann zog die Pistole aus dem Halfter. Es war eine.44er Magnum à la Dirty Harry. Ich fühlte mich nicht besonders glücklich. Sicher, bis zum Sonnenuntergang dauerte es noch einige Minuten, aber der Mann drückte die Mündung der Waffe an meine Stirn und entsicherte sie. Über seine Brust liefen Schweißtropfen, doch seine Hand blieb vollkommen ruhig. Er würde es richtig machen. Sein Timing sollte perfekt sein.
    Doch das war meines aber auch. Ich zog an meinen Fesseln - und das Klebeband riss auseinander, bis nur noch gewellte, silberfarbene Fetzen von meinen heißen Handgelenken herunterhingen.
    Ihm blieb keine Zeit für eine Reaktion. Ich rollte mich herum, die Pistole ging los. Die Kugel streifte an der Seite meines Kopfes entlang, während ich ihm meine gefesselten Füße in den Unterleib rammte. Er stürzte zu Boden und schlug mit dem Schädel gegen die Seitenwand des Sarges. Er war nicht tot, noch nicht einmal bewusstlos, aber der Aufprall betäubte ihn für einen winzigen Augenblick, während ich meine Fingernägel in das Klebeband um meine Fußknöchel grub und es abriss.
    Bevor er sich wieder rühren konnte, war ich frei. Ich packte seine Kehle, drückte ihn mit aller Kraft auf den Zementboden und bohrte gleichzeitig zwei Finger meiner anderen Hand in die Sehnen seines Handgelenks, bis er die Pistole losließ. Ich packte sie und schmetterte sie mit voller Wucht auf den Boden.
Sie zerbrach in mehrere Stücke. Den Rest warf ich in die Ecke.
    Dann riss ich das Klebeband von meinem Mund und nahm dem Mann die Sonnenbrille von der Nase. Ich wollte sein Gesicht sehen, es mir einprägen, bevor die Jungs aufwachten und ihn erledigten.
    Dieser Anblick war ein Schock.
    Seine Augen waren keine menschlichen.
    Es war nichts Weißes darin, sondern sie waren schwarz, so schwarz wie Tinte. Seine ganze Hornhaut war schwarz. Das konnten keine Kontaktlinsen sein. Dies hier war Fleisch und Blut, erfüllt von dunklem Leben. Er blinzelte hastig, wie eine Echse, und dann schob sich ein dünnes Schutzlid über seinen Augapfel. Es war so hell wie ein Spiegel, und ich sah mein tätowiertes Gesicht darin, verzerrt. Dann klappte das Lid wieder herunter und enthüllte erneut diese unmöglichen, ungeheuerlichen schwarzen Augen.
    »Scheiße!«, flüsterte ich.
    Er warf mir einen äußerst verächtlichen Blick zu, den ich aber kaum registrierte. Diese Augen! Herr im Himmel! Diese Augen waren nicht im Entferntesten menschlich. Sie hätten einem Dämon gehören können, aber an diesem Mann war nichts besessen, er hatte keine dunkle Aura. Er musste etwas anderes sein.
    Aber er ist menschlich genug, dass er dich hat narren können, sagte ich mir. Und er ist menschlich genug, dass er jemand anderem Rechenschaft schuldet.
    Das Handy. Ich durchsuchte seine Taschen, während ich mich bemühte, seinen kalten, reptilienartigen Blick zu ignorieren. Mich überlief eine Gänsehaut, und das lag jetzt nicht an den Jungs.

    »Also«, murmelte ich und zuckte zusammen, als ich meine Finger tief in seine Hosentasche schob. »Wer will meinen Tod?«
    Er gurgelte, weil ich ihm den Hals zu fest zudrückte, aber ich ließ nicht los. Schließlich gelang es mir, sein Handy zu packen. Ich zog es aus der Tasche und drückte sofort die Taste für Wahlwiederholung. Erneut gurgelte Wasser durch die Rohre über meinem Kopf. Ich hörte ein Kind weinen. Vielleicht war es das Kind vom Pike Place Market.
    Eine Nummer leuchtete auf dem kleinen Display auf, ich drückte den Rufknopf. Ich hörte es klingeln, dann ein Klicken.
    »Sei gegrüßt, Franco«, sagte eine ruhige männliche Stimme.

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