In Den Armen Der Finsternis
hatte wohl den Großen Zahn verletzt«, antwortete der kleine Dämon zögernd. »Jetzt habe ich dich und deine Bedürfnisse.«
Das bedeutete: Die Jungs hatten getan, was sie konnten und würden nicht mehr tun. Nicht, solange ich hier allein war und mich in eine gefährliche Lage begeben würde.
Ich versuchte aufzustehen, allerdings vergeblich. Dabei bemerkte ich, dass ich immer noch eines der Messer meiner Mutter in meiner linken Hand hielt. Ich umklammerte die Klinge
so fest, dass ich mir die Haut bis auf die Knochen zerschnitten hätte, wären meine Handschuhe nicht mit Stahl durchzogen.
Ich konnte das Messer nicht loslassen. Meine Finger wollten sich nicht öffnen. Zee packte meine Hand und sah mich mit seinen ernsten roten Augen an.
»Vertraue«, flüsterte er und nahm mir die Klinge sehr behutsam aus der Hand. Dann schob er sie unter meiner Jacke in die Scheide.
Hab einfach nur ein bisschen Vertrauen , hatte meine Mutter einmal gesagt. Das Spiel ist erst vorbei, wenn du tot bist.
Ich atmete langsam aus. Zee rieb seine Wange an meinem Arm, während mir Dek und Mal liebevoll ein Stück von Bon Jovi ins Ohr summten. I’ll Be There For You .
Zee half mir aufzustehen, hielt meine Hand fest und legte sie auf seine warme, dürre Schulter. Mit der anderen rieb ich mir durchs Gesicht. Ich zitterte. Rohw und Aaz schlichen herum, verschwanden im Schatten und tauchten fast im selben Moment auf dunklen Flecken hinter mir wieder auf, dann über mir, in den Nischen zwischen Mauern und runden Lehmgiebeln. Ich hörte ein Schnüffeln, das Knirschen von Metall und Stein. Ich konnte nur hoffen, dass ihnen keine streunenden Hunde oder eine herrenlose Katze über den Weg lief.
»Grant«, sagte ich und versuchte nicht an Jack zu denken, der nur mit einer Pumpgun bewaffnet ganz allein im Schnee stand. Es spielte keine Rolle, dass er ein Avatar war, ein Unsterblicher. Sein menschlicher Körper war gebrechlich und alt, und er hatte Angst gehabt.
»Folge mir«, antwortete Zee. Ich atmete noch einmal tief durch und folgte ihm stolpernd auf die Straßen von Shanghai.
Mein Zustand erlaubte es nicht, die Veränderung der Umgebung zu genießen, obwohl etwas in mir sie registrierte und für
eine andere Zeit in meinem Gedächtnis aufbewahrte. Ich war sechsundzwanzig Jahre meines Lebens eine Nomadin gewesen und hatte niemals eine Bleibe aus Stein und Mörtel gekannt, bis auf den Bauernhof in Texas, den ich nur wenige Male aufgesucht hatte - das letzte Mal in jener Nacht, in der meine Mutter ermordet wurde.
Stattdessen war meine Mutter mein Zuhause gewesen. Ebenso wie Zee und die Jungs. Manchmal bedeutete auch unser Auto für mich ein Zuhause. Aber das war alles. Ich war in ein unstetes Leben hineingeboren worden, ich war gezwungen, es zu ertragen und wurde gelehrt, es zu lieben. Bis ich Grant kennengelernt hatte, hätte ich niemals geglaubt, dass ich es je aufgeben würde. Diese Möglichkeit war mir nicht einmal in den Sinn gekommen.
Trotzdem hatte ich nie den Ozean überquert. Ich war nur so weit gereist, wie ein Auto mich bringen konnte, von Kanada nach Südamerika und in alle Länder dazwischen. Meine Mutter war in Asien geboren worden und in der ersten Hälfte ihres Lebens durch Europa gereist. Dann kam sie mit dem Schiff nach Amerika.
Ich hätte dasselbe machen können, allerdings umgekehrt, das wusste ich. Vielleicht hätte ich es auch tun sollen. Aber meine Wohlfühlzone übte einen großen Einfluss auf mich aus, so zusammenhanglos sie auch sein mochte.
Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war, aber auf der Straße gingen Menschen; unfassbar dürre junge Frauen in hautengen Leggins und hochhackigen Stiefeln, mit vollendet frisiertem Haar und Umhängetaschen, die von ihren schlanken Schultern herunterbaumelten. Männer mit stachlig gegeltem Haar, das ihnen über die Augen und die Kragen ihrer Jacken fiel, tauchten auf. Alte Menschen humpelten vorbei, Eltern mit Kinderwägen
und Kinder, die auf belebten Bürgersteigen Ball spielten, während ihre Eltern auf Bänken saßen und ihnen beim Spielen zusahen. Überall sah man Fahrräder, Roller und Autos. In die kalte Luft mischte sich ein Geruch von Auspuffgasen, wenn ein Bus an mir vorbeifuhr. Es war Nacht, doch es hätte genauso gut Tag sein können. Die Restaurants quollen vor Menschen nur so über, und wenn ich durch die Fensterscheiben blickte, sah ich Tische mit kleinen Schüsseln voller Speisen und lachende Gesichter davor.
Das war vielleicht China, aber es war trotzdem
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