Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

In Den Armen Der Finsternis

Titel: In Den Armen Der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjorie M. Liu
Vom Netzwerk:
schwacher Punkt bist«, sagte er leise. »So wie er genauso weiß, dass Grant deine Schwäche ist.«
    Tränen brannten in meinen Augen, während ich mit dem alten Mann um meine Hand rang. » Was ist Grant? Was ist denn ein Lichtbringer?«
    Hinter mir hörte ich ein Krachen, das noch lauter war als zuvor und in das sich das Knurren der Jungs mischte. Jack sah nicht hin und ließ auch nicht zu, dass ich mich umdrehte. Trauer umwölkte seine Züge, eine so unverstellte Trauer, dass sie mir durch Mark und Bein drang.
    »Die Lichtbringer waren die Ersten«, antwortete er heiser und drückte seine Lippen auf die Fingerrüstung.
    Ich spürte ein Saugen auf meiner Haut, eine flüssige Hitze, die sich um meinen Finger legte. Jack stieß mich von sich. Ich taumelte nach hinten und hörte nicht auf zu fallen.
    Ich stürzte in den Abgrund.
     
    Momente, Minuten, Stunden, Tage. Im Abgrund hatte die Zeit keine Bedeutung. Sie war flüssig, relativ, eine Frage der Wahrnehmung. Und ich nahm nichts wahr, als ich in der Dunkelheit schwebte und nach meinem Großvater rief.
    Dann platzte die Blase, und ich wurde in einen klaren Nachthimmel ausgespien. Der Boden befand sich weit unter mir. Ich fiel und sah eine Explosion von Lichtern: eine Stadt, deren Lampen wie Neon-Diamanten glitzerten, weit zahlreicher als die Sterne. Die Jungs hingen zwar an meinem Körper, doch ich bemerkte sie kaum. Nichts spielte eine Rolle als das Gefühl, dem Boden entgegenzurasen, immer schneller zu werden und selbst die Geschwindigkeit zu überschreiten, die die Gravitation vorgab.

    Die Welt verschwand ein zweites Mal, erwachte zum Leben und verschwand wieder. Und ich fand mich plötzlich auf solidem Beton. Ich schrie immer noch, meine Eingeweide tanzten sich geradezu zusammen. Zitternd sank ich auf Hände und Knie herunter.
    Es dauerte lange, bis ich mich rühren konnte, und bei jeder Bewegung hatte ich das starke Gefühl, gleich in Ohnmacht zu fallen. Also rührte ich mich nicht und konzentrierte mich ganz auf das Atmen. Und darauf, keinen Herzinfarkt zu bekommen. Als ich schließlich sicher war, dass sich der Boden nicht öffnen und mich verschlingen würde, erhob ich mich langsam auf die Knie. Meine Gelenke schmerzten, als wäre ich in vierzig Sekunden um vierzig Jahre gealtert.
    Betonmauern umringten mich. Ich befand mich in einer schmalen Gasse, die sich plötzlich krümmte. Es fühlte sich an, als wäre ich in einem alten Schuppen. Krumme, schiefe Türen säumten die Wände, eingerahmt von Eimern, angeketteten Fahrrädern und kleinen Holztischen, die mit Zeitungen bedeckt waren. In die Steinmauern waren mit Eisenstangen gesicherte Fenster geschnitten, und billige Laternen in den Räumen ließen die Schatten tanzen. Ich lauschte dem Klappern von Töpfen und konnte Fett und verfaulenden Abfall riechen, was ein noch üblerer Geruch war als der des Ammoniaks in menschlichem Urin. Über mir spannten sich mit Bettlaken und Unterwäsche behängte Leinen über die Gasse. Und ganz oben verdeckte ein zerklüftetes Gewirr aus großen Mietshäusern den Nachthimmel so vollkommen, dass ich nur den winzigen Ausschnitt einer Wolke sehen konnte.
    Die Luft war kühl und feucht. Ich warf einen Blick auf die Zeitungen: chinesische Schriftzeichen. Ein Datum konnte ich nicht erkennen, aber wenn ich in Asien war, sollte eigentlich die
Sonne scheinen. Was wiederum bedeutete, dass ich entweder vorwärts oder rückwärts in der Zeit gereist war. Beides schien angesichts der Besonderheiten der Fingerrüstung möglich. Außerdem war sie zweifellos auch für meine plötzliche Ortsveränderung verantwortlich, obwohl ich selbst nie auf die Idee gekommen wäre, sie auf diese Weise zu nutzen.
    Jack, dachte ich, und hatte plötzlich Angst um ihn. Verdammt!
    Rohw tauchte aus den Schatten auf, legte sein Maul an Zees Kopf und flüsterte ihm einen Strom von leisen, unverständlichen Lauten zu.
    Zee sah mich an. »Der große Mann ist schon hier.«
    Wir waren also in Shanghai, in der Zukunft. Die Angst um Jack schlug in die für jemand anderen um. »Ist er bei Cribari?«
    »Sie reden nur. Der scharfe Mann hat ihm nichts getan.«
    Cribari arbeitet mit einem Avatar zusammen, dachte ich. Und dieser Avatar will Grant in seine Gewalt bringen. Lebend.
    Aber was sollte diese Verstellung? Warum sollte er Grant durch die halbe Welt folgen, wenn er nur mit ihm reden wollte? In Seattle war Grant doch genauso angreifbar.
    »Was ist mit Jack?«, fragte ich Zee. »Kannst du ihm immer noch helfen?«
    »Er

Weitere Kostenlose Bücher