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In Den Armen Der Finsternis

Titel: In Den Armen Der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjorie M. Liu
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auch dasselbe wie überall. Die Menschen und ihre Bedürfnisse unterschieden sich nicht, ebenso wenig wie ihre Sünden und Träume.
    Ich aber fiel auf. Zwar begegnete ich anderen Fremden, aber nicht vielen. Ich hatte keine Möglichkeit, in der Menge unterzutauchen, doch niemand schien sich um mich zu kümmern. Ich war nur ein Mensch auf der Straße - und nach ein paar Minuten entspannte ich mich. Eine andere Wahl hatte ich ohnehin nicht, und außerdem war ich vollauf damit beschäftigt, die Jungs im Schatten zu beobachten, das Aufflackern von roten Augen und das Rollen von dürren Schultern in den Büschen und zwischen den zahllosen Nischen und Spalten alter Gebäude zu verfolgen. Dek und Mal schmiegten sich fest und warm um meinen Hals, sie hatten sich in den Schatten meines Haars zurückgezogen. Sie schnurrten und summten, während ihre kleinen Zungen gelegentlich meine Ohren kitzelten, wenn sie witterten.
    Ich sah, wie mich Zee von einer ruhigen Seitenstraße aus beobachtete und bog nach rechts ab, folgte ihm. Die Popmusik, die aus den Lautsprechern einer Boutique an der Ecke drang, wurde sofort leiser. Ich wurde von der Dunkelheit zwischen den Mauern eines verklinkerten Mietshauses wie von einem Kokon
eingehüllt. In der Gasse parkten Fahrzeuge, und in regelmäßigen Abständen waren Palmen vor die niedrigen Betonmauern hingepflanzt worden. Ich wusste, dass wir vollkommen allein waren, als Rohw hinter einem flachen blauen Lieferwagen auftauchte und mir ein weiches, warmes Brötchen in die Hand drückte.
    Ich biss hinein. Es schmeckte heiß, salzig und weich und war mit Rüben und geröstetem Schweinefleisch belegt. Ich aß schnell, während mein Magen plötzlich hungrig knurrte. Ich brauchte die Kalorien und den Trost von Nahrung in meinem Mund. Ich war schon früher einmal verhungert. In der Ödnis war ich sogar tausend Male verhungert, aber die Jungs hatten mich immer am Leben erhalten - auf ihre Art. Seitdem ist es mir immer wieder schwer gefallen, das Gefühl von Hunger zu ertragen.
    Rohw gab mir noch ein Brötchen, während ich weiterging, und dann eine kleine Plastikschale, die mit dampfenden Fleischklößen gefüllt war. Ich blieb nicht stehen, während ich aß. Ich stopfte mir die Nahrung mit den Fingern in den Mund und verbrannte mir dabei die Zunge und den Gaumen. Ich fragte nicht erst, woher das Essen gekommen war, und es interessierte mich auch nicht. Manchmal war es wirklich wesentlich besser, gar nicht zu wissen, wie die Jungs etwas organisierten.
    Zee sprang auf das Dach eines Autos. »Der große Mann ist immer noch in Sicherheit. Keinerlei Anzeichen von Schwierigkeiten.«
    Ich nickte und hielt die Plastikschale hoch. Dek schob seinen Kopf aus meinem Haar und fraß daraus, bis meine Abfälle verschwunden waren. Mal leckte mir die Finger ab. »Sind wir bald da?«
    »Ein paar Minuten noch.«

    Wir verließen die Gasse und gingen durch einen anderen Teil von Shanghai. Einen von Licht und Autos erfüllten Abschnitt - in einer Stadt, die den Himmel verbarg. Links von mir sah ich eine funkelnde Oase, einen Einschnitt in der Insel, wo am Rande der Straße eine riesige Halbkugel auftauchte, die wie ein neonblaues Ornament erleuchtet war. Und aus ihr erhoben sich zwei Wolkenkratzer, deren geneigte Dächer aus weißem Licht und Glas bestanden. Gigantische Werbeplakate bedeckten zwei andere funkelnde Türme. Aber das galt ebenso für fast jedes der schlanken Hochhäuser, die auf dieser kleinen Insel standen. Die Rücklichter glühten rot. Eine breite Fußgängerbrücke überspannte die Straße, über die sich ganze Massen von Leibern schoben.
    Fünf Minuten später war ich da.
    Es war eine Kathedrale. Ein höchst ungewöhnlicher Anblick zwischen diesen modernen Gebäudeexzessen. Aber sie behauptete sich durchaus in diesem Gelände, das dunkel und still war. Es wirkte fast so, als befände sie sich in einer Seifenblase, irgendwie jenseits vom Rest dieser Metropole. Sie bestand aus roten Ziegelsteinen und hatte zwei Türme: eine kleine, bescheidene Kirche. Je länger ich sie betrachtete, desto deutlicher wurde das Gefühl, dass ich dort auf eine konkrete Manifestation der Stille blickte. Auf einen Ort, in dem die Augenblicke in der Zeit selbst gefangen blieben.
    Die Kirche war von einer hohen Mauer umgeben, in die ein geschlossenes, schmiedeeisernes Tor eingelassen war. Dahinter stand in der inneren Peripherie ein kleines Wachhaus. Ich hatte gar nicht erst vor, um die Erlaubnis zu bitten, eintreten zu dürfen.

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