In den eisigen Tod
genau jenes Gletschers, nach dem sie gesucht hatten, ungefähr 100 Meter abgerutscht waren. In der Ferne bot sich ihnen der tröstliche Anblick des in Rauch gehüllten Gipfels des Mount Erebus. Entweder hatten sie wieder einmal Glück gehabt, oder sie waren mit ihren improvisierten Navigationsmethoden außergewöhnlich erfolgreich gewesen.
Doch die Gefahr war noch nicht vorüber. Weiter unten am Gletscher stürzten sowohl Scott als auch Evans, nur noch an ihren Zuggurten hängend, in eine Spalte mit eisig blauen Wänden. Lashly blieb oben zurück und musste versuchen, seine Kameraden zu retten, während er sich mühte, den gefährlich über dem Abgrund balancierenden Schlitten daran zu hindern, den beiden nach unten zu folgen. Langsam und vorsichtig sicherte er den Schlitten mit zwei Skiern über der Spalte. Unterdessen nahm Scott seine Schutzbrille ab, und während er sie umherschwenkte, gelang es ihm, einen Eisvorsprung zu finden, auf dem er stehen konnte. Dann half er Evans, der »in seiner üblichen ruhigen, sachlichen Tonlage« auf seinen Ruf geantwortet hatte, sich in eine ähnliche Position zu manövrieren. Zumindest baumelten sie jetzt nicht mehr über dem gähnenden Abgrund. Die Kälte des Eises war enorm, und aus ihren Gesichtern und Fingern wich jedes Gefühl. Während Lashly sich verbissen am Schlitten festhielt, kämpfte sich Scott aus dem Abgrund hoch, um von Lashly mit einem herzhaften »Gott sei Dank!« begrüßt zu werden. Dann halfen er und Lashly Evans, nach oben zu klettern.
Der sonst so gesprächige Waliser war um Worte ziemlich verlegen. Wie Scott schrieb: »Ein paar Minuten lang konnten wir einander nur ansehen, dann sagte Evans: ›Menschenskinder!‹; es war das erste Mal, dass er seine Verblüffung zum Ausdruck brachte.« Das Erlebnis versetzte ihn längere Zeit in Staunen. In ihrem Lager spielte er darauf an, wie knapp es gewesen war. »Den Socken halb angezogen, sagte er ... plötzlich: ›Tja, Sir, aber wie war das mit dieser Schneebrücke?‹ oder ... ›Wenn wir das nicht geschafft hätten, wo wären wir jetzt?‹, und dann beendete er das Selbstgespräch mit: ›Mannomann, war das knapp!‹« Scott fand es rührend und zugleich belustigend. Er war auch mehr denn je davon überzeugt, dass er sich die richtigen Begleiter für die Schlittenreise ausgesucht hatte. Sie hatten weder Furcht noch Panik gezeigt, sondern besonnen gehandelt. In dieser Nacht schüttelte Evans immer noch den Kopf vor Verwunderung, und Lashly sang ein lustiges Liedchen über dem Kochtopf. Diese Vorkommnisse hatten Scott auch vor Augen geführt, dass das Reisen in der Antarktis vollkommen unkalkulierbar war. Keine Planung der Welt konnte verhindern, dass ein Schlittenteam in eine Spalte stürzte oder einen Gletscher hinunter rutschte. Er und seine Gefährten hatten mit viel Glück überlebt, und Scott fühlte sich in seiner Schicksalsgläubigkeit bestärkt.
Als sie am Weihnachtsabend wieder an der Discovery anlangten, musste Scott mit Enttäuschung feststellen, dass sie immer noch im Eis feststeckte. Doch jetzt schrieb er nieder, was auf seiner Reise in den Westen geleistet worden war. Er rechnete aus, dass sie während ihrer 59tägigen Reise im Durchschnitt fast 27 Kilometer pro Tag und insgesamt 1300 Kilometer mit dem Schlitten zurückgelegt hatten. Dies bestätigte Scott in seiner Ansicht, dass Menschen schneller waren als Hunde. Die Entfernungen waren gut im Vergleich zu ihrer Reise nach Süden, als sie nur langsam vorangekommen waren und im Durchschnitt bloß etwa 18 Kilometer am Tag geschafft hatten.
In seiner Abwesenheit war eine Reihe anderer Ausflüge gut verlaufen. Scott wusste, dass die Expedition mit einigen nützlichen wissenschaftlichen Forschungsergebnissen nach England zurückkehren würde. Royds und Bernacchi waren mit einem Team 31 Tage lang mit dem Schlitten über das Ross-Schelfeis nach Südosten gereist und hatten nachgewiesen, dass sich das Ross-Schelfeis glatt weiter fortsetzte, und Bernacchi hatte etliche Beobachtungen gemacht, aus denen er wertvolle Informationen über die magnetischen Verhältnisse der Region gewinnen konnte. Er hinterließ auch einen überaus nüchternen Bericht über das Reisen mit Schlitten und schilderte einige der Probleme, die in Scotts abgehobeneren und würdevolleren Erzählungen nicht angesprochen wurden. So erzählte er »einen der Alpträume des Schlittenfahrers in Antarktika«: Die Entleerung von Darm und Blase bei Temperaturen weit unter Null. Er erklärte,
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