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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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dämmernden Sommerhimmel lagen.
    Araceli wachte davon auf, dass der harte Boden unter ihr sich wellenartig hob und senkte, und als sie die Augen öffnete, sah sie die ausgeschaltete nackte Glühbirne über ihr wie ein Pendel hin und her schwingen. ¿Un temblor? Zweifelsohne. Und dann war es vorbei. Jetzt merkte sie erst, dass weißes Sommermorgenlicht durch die Lücken in der dicken Gummihaut des Vorhangs drang, dass Staub in den Strahlen tanzte. Sie stemmte sich hoch und sah von der Mitte des Wohnzimmers aus, dass Keenan auf Tomás’ Bett schlief und Brandon auf dem Boden zwischen ihr und Tomás, auf wogenden Decken aus Polyester, bedruckt mit Papageien, japanischen Actionfiguren und dem Logo eines mexikanischen Fußballvereins. Brandon hatte den Mund offen und den Hals verrenkt, was auf gequälten Schlaf schließen ließ, Keenan hatte den feuchten Daumen vor dem Mund. Sie hatten den morgendlichen Straßenlärm verschlafen, der durch die Fenstergitter und Vorhänge drang: ein Motorrad ohne Auspuff, ein schwerer Lastwagen, der den Holzfußboden erzittern ließ, der quäkende Gebetsruf eines Tippelbruders: »Wuuuuhuuuuh! Ihr Aaaaaaaarschlöcher! Erdbeben! Komm doch her, wenn du was willst! Komm doch!« Araceli nahm das Pathos der Situation wahr: die wohlgenährten, langhaarigen Torres-Thompson-Jungen inmitten der Geräusch von Armut und Sucht, schlafend im engen Nest dieses Bungalowwohnzimmers mit seinen Spanplattenmöbeln und der grauen Wandfarbe, die zu transpirieren schien. Das dünne Haar der Jungen war schweißnass, sie atmeten flach und kurz, wie das Kinder eben taten, und ihr Atem stieg auf zur nackten Glühbirne, die jetzt wieder still hing. Was hätte Maureen gesagt und getan, wenn sie plötzlich hier aufgetaucht wäre und ihre beiden Prinzen schlafend in einem Zimmer mit einem mexikanischen und einem salvadorianischen Jungen gesehen hätte? Ihre jefa hätte die schmalen, leicht modellierten Augenbrauen zusammengezogen und aufs Aggressivste ihre Missbilligung ausgedrückt, sie hätte mit halben Sätzen und Geräuschen ihre Empörung deutlich gemacht. Ha-hemm! Hierher haben Sie meine Kinder gebracht? In dieses ekelhafte kleine Mietshaus? Und Sie lassen sie neben einem Waisen schlafen?
    Ja, señora , würde Araceli sagen. Sie waren weg. Und damit wäre die Diskussion beendet.
    Vorsichtig stieg Araceli über die Jungen auf dem Fußboden und ging hinaus auf die Straße, zum Lebensmittelladen und dem öffentlichen Telefon, das es dort gab.

14 Ihr Bus fuhr Richtung Osten, tiefer hinein ins Herz der Industriemetropole, über die großen Nord-Süd-Verkehrsadern hinweg, über Straßen und Schienen, die zum Transport von Gütern und Waren benutzt wurden, durch Bezirke voller Stacheldraht, wo faustgroße Unkrautbüschel auf den Gehwegen wucherten, vorbei an Salzwassertanks aus Edelstahl, aus denen körnige Sole leckte, vorbei an Fabrikparkplätzen, deren Begrünung von Dürre und Pflegemangel gelb verbrannt war, vorbei an Lagerplätzen mit aufgestapelten Kunststoffröhren, an verkümmerten Baumschösslingen und Gebäuden mit Aufschriften wie CHOY’S IMPORT oder VERNON GRAPHIC SERVICES oder COMAK TRADING . Die Umgebung löste in Brandons überdrehter Phantasie neue Tagträume aus. Zum Nachdenken war er zu müde, weil er so lange wach geblieben und Tomás’ Geschichten über die Kreuzung der 39th Street gelauscht hatte und weil Araceli ihn dann so früh geweckt hatte, um zum nächsten Ziel aufzubrechen. Sie fuhren zu einem Park, wo sie möglicherweise ihren Großvater finden würden.
    »Ich weiß nicht, wo«, sagte Araceli, »aber ich weiß, wen ich fragen kann.« Sie erzählte von ihrer Freundin Marisela und deren angeheiratetem Onkel, der in Huntington Park wohnte, su tío político , der angeblich in einem ordentlichen amerikanischen Vorstadthaus wohnte, in der Gegend, in die nach Mr Washingtons Aussage auch el abuelo gezogen war.
    »Dieser Onkel meiner Freundin, der kann uns helfen«, sagte sie.
    »Du hast eine Freundin?«, fragte Keenan und war nicht überrascht, als Araceli keine Antwort gab.
    Sie fand, dass alles viel glatter lief als erwartet – der Bus fuhr zügig durch die Straßen, ohne dass sie dabei in einen der üblichen Morgenstaus gerieten. Einen Moment wunderte sich Araceli über die Leere, sie hatte das Gefühl, dass ihr irgendetwas Wichtiges entgangen war, etwas, das diesen seltsam stillen Dienstag hätte erklären können.
    An der California Street stiegen sie um und fuhren Richtung Süden. Sie

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