In den Häusern der Barbaren
brennenden Lampen hinter den Schaufenstern.
»Nicht offen«, sagte eine Koreanerin von drinnen. Sie kniete mit einem Klemmbrett auf dem Boden und war von Kisten und Ständern voller kunstseidener Blusen umgeben. »Cerrado.«
»Ich suche keine Kleider«, sagte Araceli. »Ich suche eine Straße.« Sie zeigte der Frau einen Zettel mit der Adresse, die Marisela ihr gegeben hatte.
Myung Lee stand auf, nahm die Adresse und betrachtete dann die Frau, die sie ihr überreicht hatte. In den vier Monaten, seit sie ihr Geschäft eröffnet hatte, schien jeder Tag eine neue Seltsamkeit mit sich zu bringen, ein neues Rätsel – so wie diese Mexikanerin, die in Begleitung von derart hübschen Kindern war. Myung Lee war in Seoul geboren, unverheiratet, achtunddreißig Jahre alt und versiert in der lokalen Modesprache: Kunstseide mit Tropenblüten, Blusen im Leopardenmuster und mit gewagtem Ausschnitt, weit geschnittene Kunstfaserkleider, die man auf Körpern jeder Größe und Form drapieren konnte. »Vielleicht ich kenne diese Straße«, sagte sie. Geografie war leicht; was sie nicht verstand, war die systematische Heimlichkeit der Ladendiebe oder die Preispolitik der Großhändler im Garment District oder wieso ihr Onkel ihr 40 000 Dollar geliehen hatte, um ein Geschäft zu eröffnen, während er gleichzeitig fest von ihrem Scheitern auszugehen schien. An diesem Morgen des vierten Juli hatte sie wieder einsame Stunden der Inventur vor sich, begleitet von obsessiven Tagträumen über ihren kalifornischen Onkel und sein hochnäsiges Millionärsgehabe, über seine dünne Teenagertochter mit ihren Kinderkleidergrößen, über ihre Villa in diesem asiatischen Beverly Hills namens Bradbury. Je öfter Myung an die Schulden dachte, die sie ihrem skeptischen samchon irgendwann würde zurückzahlen müssen, desto mehr hasste sie die Kunstseide und die Tropenblumen und die Leopardenmuster. Seltsamerweise hatte sie allerdings noch immer gern Amerikanerinnen um sich oder Mexikanerinnen oder was die meisten ihrer Kundinnen auch sein mochten. Als sie nun zur Tür ging, um Araceli den Weg zu zeigen, löste sich der Ärger in ihren Zügen in die Freundlichkeit auf, die einem im Einzelhandel immer gut zu Gesicht stand.
»Das ist da drüben«, sagte Myung Lee und zeigte nach Osten. »Nicht weit. Zwei Straßen.« Sie legte Araceli eine Hand auf die Schulter und sagte: »Ihre Jungen sind sehr nett.« Araceli war zu verblüfft, um zu irgendwelchen Erklärungen anzusetzen. Ihr Vater muss sehr hellhäutig sein , dachte Myung Lee und stellte sich den abwesenden weißen Ehemann vor, als die Fremden weiter den Pacific Boulevard entlanggingen. Ich bin zwar Single, aber ich habe zumindest nicht zugelassen, dass mich ein Mann mit zwei Kindern sitzen lässt. Nein.
»Sie hat gedacht, du wärst unsere Mutter«, sagte Keenan. »Das war ja komisch.«
» Die war ein bisschen durcheinander « , sagte Araceli, und sie bogen vom Pacific Boulevard ab in eine Gegend, wo der Rauputz der Häuser veilchenblau und nelkenrosa gestrichen war. Kleine Rasenflächen lagen hinter bemalten Backsteinpfeilern, dazwischen schmiedeeiserne Zäune in Feder- oder Fächerform. Brandons Blick wurde wieder nach oben gezogen, wo ein Baldachin aus sich kreuzenden Versorgungskabeln über der Straße hing, während Keenan auf der anderen Straßenseite einen Mann am Zaun lehnen sah, der die Hüften vorgeschoben hatte wie ein lateinamerikanischer campesino . Die Haltung erinnerte ihn an die Jugendfotos, die er von seinem Großvater gesehen hatte. »Vielleicht wohnt Grandpa John tatsächlich hier«, sagte er.
»Kann schon sein«, sagte Brandon. »Ist nicht so arm hier wie in Los Angeles.«
Sie gingen zwei Straßen weiter, doch der gesuchte Straßenname tauchte immer noch auf keinem Schild auf. Wieder hielt Araceli an, der Krach ihrer Rollkoffer verstummte, und einen Moment lang waren sie und die Jungen von unerwartet tiefer Stille umgeben. Die Durchfahrtsstraßen und Freeways in der Umgebung waren zu dieser frühen Feiertagsstunde noch unbefahren, keine Lastwagen oder Gabelstapler arbeiteten im benachbarten Gewerbegebiet, und ohne die üblichen Geräusche entstand eine Stille, die etwas unnatürlich wirkte. Die Bewohner von Huntington Park wurden ebenfalls auf die fehlende Geräuschkulisse aufmerksam, zuerst durch die Fenster, die in der Sommernacht offen geblieben waren, später draußen, wenn sie vor die Tür traten. Zum ersten Mal seit Monaten waren die Vogelstimmen zu hören, das
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