In den Häusern der Barbaren
allerbeste Freundin, hörte Aracelis chilanga -Akzent und überschüttete sie mit Fragen nach Mexiko City. Griselda hielt Mexiko City für eine Art Paris, einen kultivierten Ort, zu dem sie irgendwann pilgern würde und an dem eine Frau mit mexikanischen Wurzeln ihrer amerikanischen Existenz entfliehen und zu sich selbst finden konnte. Sie wollte wissen, wohin die chilangos abends ausgingen, welche Rockbands sie hörten, in welchen Clubs sie tanzten. »Wie ist der Palacio de Bellas Artes so?«, fragte Griselda Pulido. Dann wechselte sie zu Spanglish: »¿Tienen las pinturas de Frida allí, oder muss man dafür zu ihrem Haus in Coyoacán?«
Auf Araceli wirkte diese Griselda genauso intelligent und wissbegierig wie Lucía, nur mit einer tragischen Aura, die durch ihren samtschwarzen Lidschatten und den Pony, der ihr bis auf die Augenbrauen fiel, noch unterstrichen wurde. »Ich bin an der Brown angenommen worden, die ist auf Rhode Island, und ich dachte, da kann ich ein bisschen mit Lucía an der Ostküste abhängen, aber ich konnte nicht hin«, sagte sie, und Araceli schaute ihr direkt in die Augen, um zu sagen: Ich verstehe vollkommen. So lange lernen, wie sie wollten – das konnten latinoamericanas einfach nicht, schon seit Jahrhunderten nicht, diese Ungleichheit hatte mindestens eine von Aracelis Großmüttern zur lebenslangen Analphabetin gemacht. Unsere Emanzipation ist längst nicht vollendet: Vielleicht werden unsere Töchter frei sein, wenn wir denn welche haben. Araceli versuchte Griseldas Fragen über die mexikanische Hauptstadt, so gut sie konnte, zu beantworten, auch wenn deren ungehemmte und sorglose Vermischung von Spanisch und Englisch sie ein wenig irritierte.
»Lucía und ich werden zusammen hinfahren«, sagte Griselda. »Un día. Tal vez.«
Araceli wollte ein paar Museen empfehlen, von denen Griselda vielleicht noch nicht gehört hatte, aber bevor sie dazu kam, fragte der kleine Mann mit dem rauchenden Jesus sie, ob sie schon mal in Huntington Park gewesen sei.
»Nein«, sagte Araceli. Sie mühte sich auf Englisch, weil der rauchende Jesus sie sonst nicht verstanden hätte. »Aber dies ist ein Ort, den man leicht vergessen kann. Also vielleicht war ich schon hier und weiß nur nicht mehr.« Als sie das hörten, steckten zwei Homeboys aus Lucías Freundeskreis die Hände tiefer in die Taschen und blinzelten Araceli aus geweiteten Pupillen zustimmend an. Sie grinsten schwach und bekifft und fragten sich kurz, ob die Lady wohl mal in einer mexikanischen Inszenierung des Musicals The Life mitgespielt hatte, sie sah wirklich aus wie ein Mädchen, das in einem Kampf nicht klein beigeben würde. Einen Augenblick später hatten sie Araceli schon wieder vergessen, schauten zur Mondsichel und zu den ersten Sternen hinauf, lauschten gebannt dem pulsierenden Bass, der aus der Unendlichkeit des Universums zu kommen schien, und dann rochen sie die fettgesättigte Luft aus der Gargrube, und plötzlich waren ihre Mägen schmerzhaft hohl, und sie mussten dringend wieder etwas essen.
Für die anwesenden Eltern und älteren Verwandten war Araceli das größte Rätsel. Einige waren ein wenig verstört, als sie in ihren Kreis trat – sie standen alle bei den Tischen, auf denen Fleischpyramiden und zahlreiche Beilagen bereitstanden. Gerade wollte sie mit der Gabel eine Portion carnitas aufspießen, als ihr auffiel, dass sie ungewollt sämtliche Gespräche der compadres zum Erliegen gebracht hatte. »Buenas tardes« , sagte sie, was mit einem nicht besonders freundlichen allgemeinen »Buenas tardes« beantwortet wurde. Diese Eltern waren entsetzt, weil Araceli sich so wenig um die Jungen kümmerte, auf die sie eigentlich hätte aufpassen sollen, nicht einmal als der Ältere mit einer flehentlichen Bitte zu ihr kam: »Ich finde, jemand sollte den Kindern verbieten, mit Knallern zu spielen. Das ist doch gefährlich.«
»¿Que quieres que haga?« , fragte Araceli rhetorisch, denn sie konnte sowieso nichts tun, also schlich der Junge wieder davon. Die Umstehenden fragten sich, was genau eigentlich zwischen dieser kinderunfreundlichen Frau und den amerikanischen Jungen vorging.
»Es stimmt, was der Junge sagt«, meinte eine der Mütter auf Spanisch. »Diese Dinger sind zu gefährlich. Es wird sich noch jemand verbrennen.«
»In der Schule kriegen sie gefährlichere Sachen zu sehen, das kannst du mir glauben«, wiegelte eine andere Mutter ab, und alle anderen Eltern im Kreis nickten. »Neulich hole ich meinen Sohn ab,
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