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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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fünfunddreißig Sekunden gedauert und war damit die kürzeste in der Geschichte der Unabhängigkeitsfeiern gewesen. Der Stadtrat hatte die landesweite Feuerwerksknappheit schlicht übersehen, die durch eine riesige Lagerexplosion in der chinesischen Provinz Guangdong vor einigen Monaten ausgelöst worden war.
    »Das war’s?«, fragte jemand auf Englisch.
    »¿Se acabó?«
    »Was für ein Beschiss!«
    Stadtrat Luján stand mit einer großen Serviergabel am Tisch, wo die carnitas tranchiert wurden. Er betrachtete den leeren Horizont und machte sich mit einem englischen Ausruf Luft, einem der ersten, die er praktischerweise in seinen Sprachgebrauch übernommen hatte:
    »Ach du Scheiße.«
    Nach einem hektischen Informationsaustausch während der fünfminütigen Fahrt den Hügel hinauf zum Paseo Linda Bonita war Maureen und Scott klar geworden, dass Brandon und Keenan seit Freitagmorgen mit Araceli allein gewesen waren, dass keiner von beiden seit den Telefonaten am Freitagabend mit den Jungen gesprochen hatte. Ihre Abwesenheit dehnte sich zu einer unwahrscheinlichen Zeitspanne: vier Tage, mehr als sechsundneunzig Stunden Leerstelle, ein unbekanntes Kapitel im Leben ihrer Söhne, sechsundneunzig Stunden, in denen sie sich ihrer elterlichen Verantwortung entzogen hatten. Wenn sie klein sind, ist man auf dem Spielplatz immer wachsam, nie lässt man sie länger als ein paar Sekunden aus den Augen, dachte Maureen. Und wenn man sie zwanzig Sekunden, eine Minute aus dem Blick verliert, stürzt man sofort in einen Abgrund aus Panik und Schuldgefühlen, man sucht die Umgebung ab, um die Sorge zu vertreiben, dass der Verlust endgültig sein könnte, bis man sie entdeckt und das Herz an den ruhigen Ort zurückkehrt, an dem die meisten Eltern zu leben versuchen. Maureen fuhr am Wachhäuschen vorbei, ohne die schwangere Pförtnerin zu beachten, verletzte das Tempolimit von fünfundzwanzig Meilen die Stunde, hüpfte über Bodenwellen und ließ in den engen Kurven die Reifen quietschen. Sie fuhr in die Garage und rannte ins Haus, ließ Samantha festgeschnallt im Kindersitz bei ihrem Vater.
    Obwohl Maureen erst vor einer halben Stunde hier gewesen und sich bewusst war, dass ihre Söhne kaum in dieser kurzen Zwischenzeit zurückgekehrt sein konnten, rief sie wieder ihre Namen: »Brandon! Keenan! Mommy und Daddy sind zu Hause! Brandon! Keenan!« Dieser mütterliche Reflex wurde mit jeder Wiederholung flehentlicher und klagender, bis Scott »Sie sind nicht hier« sagte, worauf Maureen herumfuhr und ihn anschnauzte: »Das sehe ich selbst!«
    Scott begann nach einer Nachricht von Araceli zu suchen, nach Hinweisen auf ihre Abreise und ihr Ziel. In der Küche, wo man eine solche Botschaft am ehesten vermutet hätte, lag nichts. Im Wohnzimmer lenkte ihn die große, leere Stelle ab, wo der zerstörte Couchtisch gestanden hatte, und daher bemerkte er nicht, dass einer der Bilderrahmen im Regal ebenfalls leer war. Er ging zurück in die Küche, wo er Maureen seinen unumgänglichen Schluss mitteilte, dass die Kinder nämlich schon eine Weile nicht mehr zu Hause seien. »Wenn man genau hinschaut, sieht man, dass die Badezimmer mindestens in den letzten vierundzwanzig Stunden nicht benutzt worden sind, wenn nicht länger«, sagte er. »Und die Küche war nicht benutzt, bis du vorhin was für Samantha gekocht hast, stimmt’s?« Ehe Maureen antworten konnte, ging Scott zur hinteren Küchentür und durch den Garten zum Gästehaus, versuchte den Knauf an Aracelis Tür zu drehen.
    »Haben wir einen Schlüssel für diese Tür?«
    Die nächsten zehn Minuten suchten Maureen und Scott ihr Haus nach einem Ersatzschlüssel fürs Gästehaus ab, bis sie in einer Schublade in der Waschküche eine durchsichtige Plastiktüte voller Schlüssel fanden. Sie hasteten zurück zum Gästehaus: In den vier Jahren, die Araceli für sie arbeitete, hatte keiner von beiden einen Fuß in diesen verschlossenen Winkel ihres Anwesens gesetzt, weil sie die Privatsphäre der Mexikanerin respektierten und darauf vertrauten, dass sie ihr Zimmer sauber hielt. Sie öffneten die Tür und betraten einen unerwartet unaufgeräumten und rätselhaften Raum. Als Erstes ging ihr Blick nach oben, wo ein Gegenstand von der Decke des kleinen Wohnzimmers hing, über einem kleinen Zeichentisch und vielen an die Wand geklebten Skizzen und ausgeschnittenen Zeitschriftenbildern: eine schwebende Skulptur, leicht schwankend in der heißen Brise, die durch das einzige, ein Stück geöffnete Fenster

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