In den Häusern der Barbaren
anstachelten. Niemand sollte vergessen, wo sie hier lebten. Sie hatten eine Feiertagsbeleidigung über sich ergehen lassen, zusätzlich zu den alltäglichen Beleidigungen von Huntington Park – dem schmutzigen Leitungswasser, den aggressiv parkenden Polizisten, der alljährlichen Überraschung der zusätzlichen Grundsteuerrate. »Dieser scheißinkompetente Stadtrat! Schon wieder!« »¡Pinche ciudad de la chingada!« Und als dann eine gewisse, sehr wichtigtuerische Frau behauptet hatte, Luján sei schuld, da waren sie gemeinsam zu seinem Haus aufgebrochen und hatten unterwegs noch mehr Leute eingesammelt.
Stadtrat Luján erschien auf der Veranda, beide Daumen in den Gürtel gehakt. Sogar die Kinder in der Menge draußen schienen daraufhin wütend zu werden, und ihre hohen Stimmen verliehen dem Protestchor eine weibliche Note.
»¡Afuera los Tres! ¡Afuera los Tres! ¡Afuera los Tres!«
»Raus mit den dreien?«, fragte Brandon. »Was soll das denn?«
»Damit meinen sie meinen Vater, Stadträtin María und Stadtrat Vicente«, sagte Lucía, die hinter ihm stand. Sie merkte, der Junge war klug genug, sie zu verstehen, also erklärte sie ihm rasch den politischen Streit, in dem ihr Vater und seine zwei Verbündeten einem korrupten Bürgermeister gegenüberstanden. »Wann immer irgendwas schiefläuft, gibt der Bürgermeister meinem Vater die Schuld. Und seine besondere Freundin, das ist die Frau in Schwarz dahinten, die holt dann ihren Mob auf die Straße, el movimiento , um uns zu schikanieren, weil wir Reformen wollen.« Mit diesen Worten stieg sie von der Veranda herunter auf den Zementpfad, der durch den Vorgarten führte, beugte sich vor und schrie: »Geht nach Hause, ihr Loser!«
»¡Rateros!« , schrie jemand aus der Menge zurück, und damit begann ein neuer Chor – das mexikanische Wort für »Banditen« oder »Betrüger«. »¡Rateros! ¡Rateros! ¡Rateros!«
»Ihr habt das Geld fürs Feuerwerk gestohlen!«
»Komm raus und verteidige dich wie ein Mann, Salomón. Wir sehen doch, dass du das Feuerwerksgeld für deine eigene Feier genommen hast. ¡Ratero! «
Auch Araceli hatte Lucías Erklärung gehört und suchte hinten in der Menge die Freundin des Bürgermeisters, eine Frau mit schwarzen, vom Haarspray stacheligen Haaren, durch das an beiden Schläfen je ein weißer Streifen lief. Sie hatte helle Haut und sah in ihrem weiten Paisleykleid eher zierlich aus, und sie hielt ein Handy in der Hand – das Werkzeug, begriff Araceli, mit dem diese Bürgermeisterfreundin ihre Anhänger zusammenrief. Die Frau entdeckte Mr Luján auf der Veranda und starrte ihn lange und selbstzufrieden an, wie ein durchgedrehter Schachgroßmeister, der die Wirkung eines spielentscheidenden Zuges auf seinen Gegner einschätzen will. Schließlich zog sie rasch die Augenbrauen hoch, als wollte sie ihrem Rivalen eine Antwort entlocken – doch Mr Luján blieb ungerührt. »Man darf ihnen nicht auch noch einen Grund geben « , sagte er zu seiner Tochter und allen, die es hören wollten. Das sprach er mit ruhiger Überzeugung, mit tiefer Nachdenklichkeit aus, die auf einen großen Vorrat an Glauben und Selbstbewusstsein deuteten. Jetzt telefonierte die Freundin des Bürgermeisters wieder und rief zusätzliche Truppen herbei. Araceli merkte, dass diese Frau und Mr Luján einen vertrauten Kampf austrugen, denselben Kampf, der auch zwischen den Gemeinderäten und Großstadtdemonstrationen in ihrer Heimat ausgefochten wurde, bei Anhörungen und gerichtlichen Untersuchungen, ein Kampf zwischen den Machthabern, die sich als patriarchalische Hirten einer dummen Herde sahen, und jenen, die von einem Reich der Vernunft und der mündigen Bürger träumten. Araceli sah, dass die Freundin des Bürgermeisters und der Stadtrat Luján an gegensätzlichen Polen der mexikanischen Geschichte standen, auch wenn sie in den USA lebten.
Ein Mann aus der Menge, der seine Baseballcap verkehrt herum trug und einen Ansatz von Bart hatte, trat bis zum Rand des Rasens vor und spuckte in Lucías Richtung, worauf Stadtrat Luján sich beim Spucker beschwerte und seine Tochter auf die sichere Veranda zurückzog.
Keenan hatte noch nie gesehen, dass Erwachsene sich gegenseitig anspuckten, und er griff Schutz suchend nach Brandons Hand. »Was ist hier los?«, fragte er seinen Bruder.
»Ich glaube, das ist ein Lynchmob«, sagte Brandon mit der amüsierten Distanz eines Anthropologen, der einen primitiven Ritus beschreibt. Er fand es seltsam tröstlich, dass er
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