Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
Vom Netzwerk:
zog.
    Maureen trat zurück zur Tür, um das Objekt vollständig in Augenschein zu nehmen. Es war ein Raubvogel, zusammengesetzt aus hundert oder mehr blauen, weißen, roten, orangen und gelben Plastikgabeln, -messern und -löffeln, die Maureen für die letzten Geburtstagspartys gekauft hatte. Das Besteck war zu einem etwa ein Meter langen Vogel zusammengefügt worden: Die Krallenfüße waren aus abgebrochenen Gabelzinken, die Zähne wurden aus mehreren Plastikmessern mit Wellenschliff gebildet, Körper und Flügel bestanden aus zwei oder mehr Schichten Besteck. Der glatte Kunststoff war willkürlich mit zerrissenen Stoffresten und Lappen behängt, und die verschiedenen Materialien erzeugten einen besonders realistischen Eindruck von Haut und Federn. Die Skulptur hatte das rohe Aussehen eines Gegenstandes, der aus einer Reihe von gewaltsamen Zusammenstößen entstanden ist. In einem Brief an eine Freundin hatte Araceli sie El Fénix de la Basura genannt, den Phönix aus dem Müll. Araceli gefiel er einerseits wegen der verstörenden, jenseitigen Aura, andererseits als Kommentar zu ihrer Situation in den Vereinigten Staaten. Sie staubte ihn einmal im Monat ab, hatte jedoch in letzter Zeit mit dem Gedanken gespielt, ihn bald abzunehmen, weil der Müll-Phönix im Ein-Personen-Kreis der Kunstliebhaber, der ihr Werk verfolgte, nicht mehr en vogue war. Maureen betrachtete die Skulptur und dann die Zeichnungen an der Wand. Es gab ein zwanzig mal dreißig Zentimeter großes Selbstporträt Aracelis, auf dem sie ihre Nasenlöcher vergrößert hatte; der Rest des Gesichtes war abstrakt geometrisch dargestellt, an Picasso angelehnt, aber ohne des Meisters Gefühl für Gleichgewicht und Komposition. Es gab einige Bleistift- und Kohleskizzen von Schuhen und Sandalen, die auf der Treppe der Metrostation Tacubaya aufwärts- oder abwärtsgingen, und ihre verfaulenden Schnürsenkel und Absätze verschmolzen mit den Betonstufen, auf denen schwammiges Moos wuchs und Wasser tröpfelte. Und es gab eine Händecollage, zusammengestellt aus Zeitschriften, die auf dem Boden aufgestapelt lagen: Meine Zeitschriften, die ich ins Altpapier geworfen habe. Beim Anblick der Skulptur und der Zeichnungen hatte Maureen das Gefühl, in die Seele einer Frau zu blicken, die unterschiedliche psychische Qualen über sich hatte ergehen lassen müssen. Ist das dieselbe Frau, die seit vier Jahren in meinem Haus lebt, meine Kinder ernährt und meine Sachen wäscht? Nein. Das ist eine Fremde. Sie schmollt, während sie für uns kocht, und in ihrer Freizeit sitzt sie hier und schafft diese Monstrositäten aus den Bruchstücken und Abfällen unseres Hauses. Die düstere Ästhetik des Besteckvogels, die höhlenartigen Nasenlöcher, die schmelzenden Schuhe deuteten in Maureens Augen auf Selbsthass und einen unterdrückten Zerstörungsdrang hin. Wenn man sie im Lichte ihrer Kunst betrachtete, gewann Aracelis alltägliche Ruppigkeit eine neue Bedeutung, und diese plötzliche und unerwartete Einsicht wurde noch beunruhigender angesichts dessen, was Scotts nun verkündete: »Ich habe nachgeschaut, es ist nichts da, keine Nachricht, kein Hinweis.« Araceli hatte die beiden Jungen irgendwohin gebracht, ohne zu verraten, wo sie sein könnte.
    Immer noch mit Samantha auf dem Arm, die nach dem Vogel zu greifen versuchte, ging Maureen in die Küche zurück und fragte sich, was sie jetzt tun sollten.
    Vierzig Minuten nach dem Feuerwerkfiasko standen Brandon und Keenan auf der Veranda der Lujáns an der Rugby Avenue. Wie große Teile der Familie Luján und ihrer Gäste waren auch sie von dem Geschrei auf die Straße gelockt worden. Mit Araceli neben sich blinzelten die Torres-Thompson-Jungen desorientiert auf eine Menge von etwa hundert Leuten, alle lateinamerikanischer Herkunft, die sich in der Mitte der Fahrbahn unter dem flackernden Licht einer Straßenlampe versammelt hatten. Manche hatten Bierflaschen im Styroporkühler in der Hand, manche zusammengeklappte Gartenstühle, und alle machten einen zerzausten, sonnenverbrannten und empörten Eindruck, als sei ihre Vierter-Juli-Feier unterbrochen worden und unvollendet geblieben. Sie waren aus dem Park gekommen, aus ihren Gärten, verwirrt wegen des leeren Himmels, der fehlenden Explosionen und der ganz gewöhnlichen Geräusche von Autoalarmanlagen, Stereoanlagen und schreienden Kindern. Das Vakuum, das der Mangel an Knalleffekten hinterlassen hatte, füllten sie mit ihren eigenen Stimmen, mit denen sie sich gegenseitig zur Wut

Weitere Kostenlose Bücher