In den Häusern der Barbaren
anscheinend schon wieder in eine Situation geraten war, in der das Leben eindeutig die Literatur nachahmte. Er hatte bisher geglaubt, Lynchmobs entstammten der Phantasie von Autoren und Filmemachern, aber hier stand einer vor ihm: Echte Menschen zeigten ihre Fangzähne und verzogen ihre Gesichter zu Grimassen, die auf sofortige Rache deuteten. »Davon habe ich in Büchern gelesen. Wobei hier allerdings niemand eine Fackel trägt. Aber ich schätze, Fackeln sind nicht unbedingt vorgeschrieben, damit es ein Lynchmob ist.«
»Was haben sie vor?«, fragte Keenan. »Werden sie uns wehtun?«
»Na ja, Steine haben sie nicht, wie ich das sehe, also können sie uns wohl nicht steinigen. Ich vermute, sie werden gleich mit den Flaschen und Dosen werfen. Außer wenn die Polizei zuerst da ist. In so einer Lage ist es ganz gut, wenn die Polizei auftaucht. Das nennt man ›die Ordnung wiederherstellen‹.«
Eine Minute später rollten langsam zwei Streifenwagen heran. Auf beiden Wagen stand an der Seite in großen stahlblauen Lettern POLICE , darunter etwas kleiner HUNTINGTON PARK und schließlich noch kleiner das wortreiche Motto der Truppe: ENGAGIERT IM DIENST DURCH HERAUSRAGENDE LEISTUNGEN. Polizeichef Mike Mueller stieg aus einem der Fahrzeuge, stellte sich groß und breit und mittelwestlich in seinem dunkelblauen Stoff zwischen die streitenden Parteien und hob die Hände wie ein Ansager im Boxring. »Es tut mir leid, aber ich muss Sie alle wieder einmal daran erinnern, dass wir eine neue städtische Verordnung zu den sogenannten politischen Versammlungen auf Wohnstraßen haben.«
Er hielt die Arme weiter in die Höhe und drehte seinen mit Rindfleisch gemästeten Körper um 360 Grad – seine Lieblingsmethode, um Pattsituationen wie diese zu beenden. »Okay, alles in Ordnung, jetzt gehen wir alle nach Hause.« Die Menge auf der Straße gehorchte, ebenso die Familie Luján auf der Veranda, bis nur noch Lucía dort stand und eine neue Parole in Richtung des Lynchmobs schrie.
»¡Re-for-ma! ¡Re-for-ma! ¡Re-for-ma!«
Brandon fiel bald ein und rief mit leicht überschnappender Stimme: »Ray-for-mah! Ray-for-mah!«
Keenan stellte sich auf die Zehenspitzen und machte ebenfalls mit, versuchte wie sein Bruder die spanischen Klänge nachzuahmen. Als die letzten Teilnehmer des Lynchmobs verschwunden waren und die Litanei endete, wandte Keenan sich an seinen großen Bruder und fragte: »Wer ist Ray Forma?«
»No sé« , antwortete Brandon.
Maureen und Scott standen sich in der Küche gegenüber und besahen sich den Hauptarbeitsplatz ihrer Angestellten, an dem nur Samanthas ungespülte Plastikschüssel den Eindruck störte: Das Leopardenmuster der Marmorflächen glänzte fleckenlos, sogar die Fenster sahen aus, als würden sie quietschen, wenn man mit dem Lappen darüberwischte. Die makellose Küche und die verstörende Kunst waren das Werk derselben Mexikanerin, und im Lichte dieses neuen Beweises menschlicher Vielschichtigkeit kam Maureen sich blind und unwissend vor: Ich habe sie einfach als selbstverständlich hingenommen, habe sie im Hintergrundrauschen verschwinden lassen. Es war nicht ganz klar, was Maureen und Scott jetzt unternehmen sollten, also tappten sie durchs Haus und hofften, das Klingeln des Telefons oder an der Haustür würde sie vom Warten erlösen. Im Augenblick schien es wahrscheinlich oder zumindest gut möglich, dass ihre beiden Söhne mit ihrer Haushälterin jeden Moment vor der Tür stehen würden. Ihre Elternerfahrung sagte ihnen, dass alle Krisen irgendwann endeten und das Haus dann zur gemächlichen Normalität zurückkehrte. Fieber sank, Schnitte wurden genäht, Röntgenaufnahmen wurden gemacht, Ärzte erklärten die Kinder für widerstandsfähig und sagten ihnen ein gesundes Leben voraus, und wenn alles vorbei war, bestärkten die tröstlichen Gewohnheiten des Haushalts – das Summen der Fernsehers, der salzige Geruch von Käse und bratendem Fleisch aus der Küche – den Glauben, dass ihr anständiges elterliches Wertesystem und ihre Wachsamkeit die Kinder auch weiterhin schützen würde.
Doch sehr rasch fällten die vergehende Zeit, ihr menschenleeres Heim mit all den Dingen darin sowie die jungenfreie Stille ein schmerzhaftes Urteil über ihre Taten, wurden zur stetig tickenden Strafe. »Wo könnten sie wohl sein?«, fragte Maureen, als sie ins Zimmer der Jungen ging und die zusammenpassenden Plastikkästen betrachtete, in denen ihr Spielzeug aufbewahrt war. »Wo hat sie die beiden
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