In den Häusern der Barbaren
Könnte jedenfalls sein, dass wir in diese Richtung ermitteln müssen.«
»Haben Sie ’ne Lösegeldforderung?«
»Nein. Aber sie hatte keine Erlaubnis, die Kinder irgendwohin mitzunehmen.«
»Seit wann werden sie denn vermisst?«
»Seit Sonntag«, sagte der Deputy, schaute dann auf seine Notizen und stellte fest, dass die Eltern ihm zwei verschiedene Zeitpunkte genannt hatten. »Oder eher seit gestern, nehme ich an.«
»Gestern? Sind Sie sich sicher, dass sie nicht bloß ein bisschen zu spät von einem Ausflug zurückkommen oder so was?«
»Negativ.«
Am anderen Ende der Leitung entstand eine längere Pause, und Deputy Suarez wusste auch, wieso: Wenn ein Polizist ein Kind als vermisst meldete, wurde beim County eine Kindesmisshandlungsakte angelegt und ein kompliziertes System von Berichten und Mitteilungen in Gang gesetzt. Der Fall wurde in eine zentrale Datenbank der Bundesbehörde aufgenommen, Sozialarbeiter und Jugendpfleger des Countys wurden benachrichtigt. Es entstand ein großer bürokratischer Aufwand, und wenn das Kindermädchen in einer halben Stunde dann plötzlich vor der Tür stand, war alles für die Katz.
»Das ist also Ihre Meldung vom Tatort, ja? Zwei vermisste Kinder in den Estates?«
»Ja.«
»Wie alt?«
»Acht und elf.«
»Mögliche Entführung nach Mexiko, Paragraf zwei-null-sieben?«
»Richtig.«
»Scheiße.«
»Ja, genau.«
Innerhalb der nächsten Stunden nahm die Geschichte der mexikanischen Haushälterin und der beiden in einem der reichsten Viertel des Orange County vermissten Jungen in den digitalen Datenströmen Masse und Fahrt auf und verband sich mit jeder Menge Treibgut aus Fakten, Halbwahrheiten und Spekulationen. Es begann mit einer gestelzten, nüchternen Pressemitteilung aus dem Polizeipräsidium: »seit Sonntag vermisst … Alter 11 und 8 … unter Obhut einer mexikanischen Staatsangehörigen … Grenzschutz informiert …« Diese Mitteilung wurde auf dem hoffnungslos veralteten Kommunikationsweg des Faxes an verschiedene Nachrichtenmedien übermittelt und landete zuerst auf dem Schreibtisch eines Reporters im Hauptquartier der lokalen Nachrichtenagentur City News Service. Der dreiundzwanzigjährige Schreiber, der in dem finanzschwachen Unternehmen ohne übergeordnete Instanz arbeiten musste, rief um ein Uhr fünfundvierzig im Büro des South County Sheriffs an und entlockte dem halb wachen Beamten im Telefondienst die Aussage, es handele sich womöglich um eine Entführung. »Der Deputy, der die Anzeige aufgenommen hat, sagt, es könne sich um eine Entführung nach Mexiko handeln.« Der CNS -Reporter versah die Meldung für den Zwei-Uhr-Nachrichtenüberblick mit den Schlagworten »Kindesentführung – Illegale Immigrantin«. Diese Vernachlässigung der journalistischen Sorgfaltspflicht würde zwei Jahre später ein ganzes Kapitel einer Doktorarbeit der Kommunikationswissenschaft an der University of Southern California füllen. Das Bulletin des City News Service erschien auf einer Liste von »Aktuellen Nachrichten«, die an die Morgenredaktionen sämtlicher Zeitungen, Fernseh- und Radiosender in Südkalifornien geschickt wurde, und um sechs Uhr morgens Westküstenzeit schließlich stand die Geschichte auf den Webseiten der CBS -Sender in Los Angeles und San Diego, wobei Letztere auch von »erhöhter Wachsamkeit« an den Grenzübergängen berichteten. Der Fernsehbericht aus San Diego, der auch die ersten offiziell freigegebenen Fotos von Brandon und Keenan enthielt, erregte mittags die Aufmerksamkeit des diensthabenden Redakteurs einer Nachrichten-Aggregator-Webseite aus Miami Beach, und dieser Mann nun machte den Bericht zur Hauptnachricht mit einer Überschrift im üblichen 36-Punkt-Blocksatz der Boulevardmedien. GRENZEN ZU: ENTFÜHRUNGSDRAMA – KALIFORNISCHE JUNGEN INS AUSLAND VERSCHLEPPT. Die einzigartige Mischung aus Promiklatsch, Politnachrichten und schrägen Tier- und Wettermeldungen machte diese spezielle Webseite zum heimlichen Favoriten auf unzähligen Bürocomputern, Laptops und Smartphones im ganzen Land, und zu ihren Fans gehörten auch Millionen von Müttern, deren Kinder von Frauen namens María, Lupe oder Soledad betreut wurden.
Am Morgen nach dem vierten Juli trotteten Brandon und Keenan allein in den Garten der Lujáns und lauschten dem gelegentlichen Knattern des Zeltdachs, wenn der Wind sich darin verfing. Araceli hatten sie in Lucías Zimmer liegen gelassen, wo sie schnarchend den Schlaf von vier ruhelosen Nächten nachholte. Neben ihr auf
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