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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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zuwandte.
    »Ist die Wippe nicht ein bisschen zu klein für Samantha?«, fragte Maureen endlich, so als wäre sie aus einem dichten Nebel getreten und habe ihre Tochter eben erst entdeckt. »Sie passt da nicht mehr rein. Sie wird ja ganz zusammengequetscht. Was habe ich mir bloß dabei gedacht?«
    In dem Zimmer, das Araceli das Zimmer der tausend Wunder genannt hatte, hockten Brandon und Keenan mit ihren Freunden Max und Riley Goldman-Arbegast beisammen. Zum ersten Mal hatten sie nicht sofort damit begonnen, Legosteine zu Brüstungsmauern, Festungen und Kerkern zusammenzusetzen oder sich von elektronischem Spielgerät zerstreuen zu lassen. Stattdessen erzählten sie sich von den jüngst erlebten Abenteuern: von der Europareise der Goldman-Arbegasts und von der Zugfahrt, die Brandon und Keenan weit von zu Hause weggeführt hatte, mitten hinein in eine andere Welt, ins Zentrum von Los Angeles.
    »Wir haben den Parthenon in Athen gesehen«, sagte Max.
    »Ist das da, wo Zeus gewohnt hat?«, fragte Keenan.
    »Nein, das war auf dem Olymp«, korrigierte ihn Brandon. Er und Max, der ältere Sohn der Goldman-Arbegasts, waren große Fans der griechischen Mythologie.
    »Und danach sind wir nach London geflogen und haben die Elgin Marbles gesehen, die die Engländer den Griechen geklaut haben.«
    »Die Griechen haben mit Murmeln gespielt?«, fragte Keenan.
    »Nein. Die Marbles sind riesige Bilder, die in Marmorplatten geschlagen sind«, erklärte Max. »Und wir haben den Stein von Rosette gesehen.«
    »Als wir in L. A. waren, haben alle Spanisch gesprochen, meistens«, sagte Keenan. »Wir haben el cuatro de julio erlebt.«
    »Ich weiß, was ›danke‹ auf Italienisch heißt«, konterte Riley, »grazie.«
    »Und wir haben dich und Keenan im Fernsehen gesehen«, sagte Max.
    »Ja«, gab Brandon unumwunden zu, »wir waren auf ziemlich vielen Sendern.«
    »Auf sehr vielen. Fast auf allen, glaube ich«, sagte Riley.
    »Hattet ihr Angst, als die Frau euch entführt hat?«, fragte Max hastig, so als habe er nur auf die Gelegenheit gewartet.
    »Nein, ich glaube, sie hat uns nicht entführt«, antwortete Brandon. »Wir haben Grandpa gesucht. Wir haben uns verirrt. Aber dafür haben wir viele coole Sachen gesehen.«
    »Wir haben das Kolosseum gesehen«, sagte Riley.
    »Gab es da Gladiatoren?«, fragte Keenan.
    »Nee«, sagte Max, »da sind jetzt nur noch Ruinen.«
    »In L. A. gibt es auch jede Menge Ruinen!«, rief Brandon. Er schilderte Einzelheiten von der Fahrt durch Los Angeles und seine Begegnung mit den Kriegsflüchtlingen und dem Lynchmob. Er erzählte die Geschichte weniger begeistert als beim ersten Mal; er hatte versucht, sie seinen Eltern zu erzählen, aber seine Mutter hatte ihn so oft mit Fragen unterbrochen, dass die Geschichte am Ende nicht mehr so klang, als wäre es seine eigene. Wie kommt es , fragte er sich, dass Geschichten langweilig werden, sobald man sie erzählt hat? Warum lässt sich eine Geschichte nicht wieder und wieder erzählen?
    »Ich finde, L. A. ist cooler als Europa«, verkündete Max, als Brandon fertig war.
    »Kann sein«, sagte Brandon. »Aber ich würde wirklich gern mal nach Griechenland. Und auch nach Rom.«
    Die Jungs saßen mit krummen Rücken im Kreis, wobei den Älteren schon ein wenig unbequem wurde, so als kündigten die zu langen Gliedmaßen die bevorstehende Pubertät an. Irgendwann bemerkte Brandon das Büchlein in Max’ Hosentasche.
    »Was liest du da?«
    »Ein altes Buch, das ich bei meinem Grandpa in New York im Bücherregal entdeckt habe, früher, als wir da noch hingefahren sind. Er meinte, ich wäre noch zu jung dafür. Da stünden Sachen drin, die nichts für mich sind, weil ich erst zwölf bin. Er hat es mir trotzdem gegeben, als Mom nicht geguckt hat. Da stehen schlimme Sachen drin. Manche Stellen sind wirklich ganz, ganz schlimm.«
    »Warum? Wird einer ermordet und so?«
    »Nein. Ich kann es schlecht beschreiben. Es kommen keine Drachen und Krieger und Elfen drin vor wie in den anderen Büchern. Aber eigentlich finde ich es richtig cool. Und schlimm. Der Junge raucht sogar.«
    »Er raucht?«
    »Ja! Zigaretten. Ich glaube, so ein gutes Buch habe ich noch nie gelesen.«
    Max schaute sich vorsichtig um, zog das alte Taschenbuch aus seiner Hose und reichte es Brandon, der den abgewetzten Umschlag musterte und den Titel las. Er verstand ihn nicht auf Anhieb.
    »Du kannst es behalten«, sagte Max, »ich habe es schon im Auto zu Ende gelesen.«
    Brandon schlug die erste Seite auf und

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