In den Häusern der Barbaren
alle schreien . Janet Bryson wollte ihren Nachbarn anschreien, der seinen Miniaturaltar hinterm Haus mit einer Lichterkette geschmückt hatte, die dreihundertfünfundsechzig Nächte im Jahr ihr Schlafzimmer erhellte. Sie wollte die unbekannten jugendlichen Mexikaner anschreien, die ihren Sohn gelehrt hatten, die Vokale so schrecklich zu dehnen. Sie musste etwas tun, sie musste in den Aufschrei dieser amerikanischen Mutter einfallen, sie musste dieser Frau helfen, der großes Unrecht geschehen war. Sie musste die Truppen mobilisieren. Sie setzte sich an ihren Computer und schrieb.
18 Maureen brauchte eine halbe Stunde, um Stephanie Goldman-Arbegast die ganze Geschichte zu erzählen. Sie fing mit dem Fiasko auf der Geburtstagsparty an, mit den Pöbeleien des angetrunkenen Sasha »Big Man« Avakian und der Installation des Wüstengartens. Sie saßen in der Küche, wo Samanthas draller, fast schon auf Kleinkindgröße herangewachsener Körper angeschnallt in der zu kleinen Wippe lag. Eigentlich war Samantha drei Monate und sieben Kilogramm über die Alters- und Gewichtsbeschränkung der Vorrichtung hinaus, wie die aufmerksame Stephanie Goldman-Arbegast bemerkte. Es verstörte sie ein wenig, dass ihre Freundin das Baby dieser anhaltenden Misshandlung aussetzte. Stephanie Goldman-Arbegast war es gewohnt, dass Maureen jede nur denkbare Schwierigkeit mit größter Eleganz meisterte; ruhig, besonnen und heiter hatte sie sich stets um alle Swimmingpool-Schürfwunden und umgekippten Weingläser gekümmert. Stephanie bewunderte ihre alte Spielgruppenfreundin auch weiterhin, sie erklärte sie in mancher Hinsicht sogar zu ihrem Vorbild, aber in den vergangenen Monaten hatte sie gelegentlich beobachtet, wie die sonst so ausgeglichene Maureen von den Ansprüchen ihrer zwei heranwachsenden Jungen und des kleinen Babys langsam, aber sicher aufgerieben wurde. Noch nie hatte Stephanie Goldman-Arbegast Maureen allerdings in einem so übermüdeten, verwirrten Zustand erlebt wie heute. Sie lief ziellos in der Küche herum und schilderte die seltsamen, unglücklichen Zufälle, den Streit um den zerstörten Wohnzimmertisch, die Flucht mit Samantha in die Wüste, die Rückkehr in das saubere, menschenleere Haus. Zum Schluss wischte sie sich die Tränen aus den Augen.
»Und so sind wir in diesen Schlamassel hineingeraten«, sagte Maureen, und als sie ihre alte Freundin aus verweinten Augen ansah, fing das Telefon schon wieder zu klingeln an. Peter Goldman, der mit Scott im Wohnzimmer saß und Wein trank, hob nach dem zweiten Klingeln ab.
»Diese Reporter«, sagte Maureen. »Wir stecken in einem Medienalbtraum. Sie haben uns zu einer Story verarbeitet.«
»Die Morgenmagazine waren voll davon«, bestätigte Stephanie Goldman-Arbegast, die sich das schwarze Haar für den Sommer raspelkurz hatte schneiden lassen. Sie war eine schlanke, energische Frau von vierzig Jahren mit einer Vorliebe für die bestickten Blusen ihrer Vorfahren aus Wyoming.
»Gestern Abend hat das Telefon pausenlos geklingelt. Wir haben irgendwann den Stecker rausgezogen, um schlafen zu können. Die Today Show . Scott hat ihnen gesagt, sie sollen uns in Ruhe lassen.«
»Und dann noch die ganzen Zeitungen und Blogs …«
»Blogs? Daran mag ich gar nicht denken.«
Stephanie zog drei ausgedruckte Seiten mit Blog-Kommentaren aus ihrer Handtasche und hielt sie in die Höhe, damit Maureen sie lesen konnte. Es handelte sich um eine Stichprobe aus dreihundertsechzehn Postings, die sie am späten Vormittag auf der Seite der L. A. Times gefunden hatte. Sie hatte sie mitgebracht, damit Maureen im Bilde wäre, schließlich war das die Aufgabe einer guten Freundin: loyal und wachsam zu sein und nicht mit den schlechten, unbequemen Wahrheiten hinter dem Berg zu halten, denn denen würde man sich irgendwann ohnehin stellen müssen. Fast genau die Hälfte aller Schreiber sympathisierte mit Scott und Maureen, und wiederum die Hälfte davon zitierte Maureens Aufschrei vor den Reportern und machte ihrer Empörung über die »liberalen«, »immigrantenfreundlichen« Journalisten Luft, die sich offenbar zu glauben weigerten, Brandon und Keenan könnten entführt worden sein. Die paranoide Rhetorik dieser Kommentare streifte Maureen nur kurz. Die andere Hälfte der Schreiber ließ sich in abfälligem Ton über die Torres-Thompsons und die Laguna Rancho Estates aus, über das »Gejammer« der »verwöhnten« Maureen und über die unbestreitbare »Heldentat« der Mexikanerin, die für das
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