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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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»Verbrechen«, zwei von den Eltern vernachlässigte Kinder betreut zu haben, kurzzeitig im Gefängnis gesessen hatte.
    »Du darfst das nicht zu ernst nehmen«, sagte Stephanie. »Ich dachte nur, vielleicht willst du es lesen. Vielleicht hätte ich es dir gar nicht zeigen dürfen.«
    »Nein, ich will das alles sehen.«
    »Da war dieser Typ im Radio, auf KABC . Irgendein Mann von einer Immigrantenorganisation, der mexikanische Frauen das ›Salz der Erde‹ genannt hat, weil sie angeblich unsere Kinder großziehen und jeden Tag Wunder vollbringen. Araceli sei, wie hat er das gleich ausgedrückt … sie stehe ›symbolisch‹ für diesen ›Quell der Mütterlichkeit‹, den die lateinamerikanischen Kindermädchen darstellen. Ich habe versucht, da anzurufen, um dich in Schutz zu nehmen, aber …«
    »Ein Quell der Mütterlichkeit? Araceli?«
    »Ja. Irgendeine überdrehte Floskel in der Art.«
    »Unglaublich.« Maureen überflog die Kommentare flüchtig, bevor sie innehielt und die Blätter an ihre Freundin zurückgab. »Dann ist Araceli wohl ihre echte Mutter«, sagte sie in sarkastisch-resigniertem Tonfall. »Und ich bin bloß eine reiche Schmarotzerin.«
    »Ignorier den Quatsch einfach. Du weißt, wer du bist. Du bist eine tolle Mutter. Von drei Kindern. Und jetzt, wo Guadalupe nicht mehr da ist, kümmerst du dich ganz allein um sie. Keiner von diesen Leuten weiß, wie sehr du dich abrackerst. Ehrlich gesagt, kann es dir auch egal sein.«
    Am meisten verletzte Maureen der Umstand, dass vollkommen fremde Leute ihre selbstgefälligen Standardmeinungen von sich gaben, obwohl es doch ganz speziell um sie und ihre Familie ging. Die Öffentlichkeit verschaffte sich Einblick in ihr Privatleben und machte sich einen Spaß daraus, Rückschlüsse auf ihr und Scotts Leben und das der Kinder zu ziehen – und das nur anhand einiger Schnappschüsse, anhand von Vorurteilen gegen Leute »wie sie« und einer kurzen Filmaufnahme. Diese gesichtslosen Fremden erdreisteten sich, Unwahrheiten zu verbreiten und gemeinschaftlich die große Lüge von Aracelis Aufopferungswillen fortzuspinnen, ohne zu ahnen, dass diese Mexikanerin Maureens Kinder nicht leiden konnte, ihnen das Essen mit mürrischem Gesicht hingestellt und einmal sogar die Unverfrorenheit besessen hatte, zu Maureen zu sagen: »Die Jungen haben zu viel Spielzeug, um es in Ordnung zu halten. Sie sind noch nicht organisiert genug im Gehirn, mit so viel Spielzeug umzugehen.« Araceli hat an der Intelligenz meiner Jungen gezweifelt, stundenlang hat sie in ihrem Zimmer gesessen und mit unserem Müll »Künstlerin« gespielt, sie hat sich geekelt, wenn mein Baby gespuckt hat. Und jetzt ist sie plötzlich die mexikanische Jeanne d’Arc.
    »Es stimmt, wir haben Brandon und Keenan hier allein gelassen«, gab Maureen schließlich zu. »Aber das gibt ihr noch lange nicht das Recht, unsere Kinder auf eine bizarre Irrfahrt durch die Stadt mitzunehmen.«
    »Nein, auf keinen Fall.«
    Maureen dachte über die Wachsamkeit nach, die tagtäglich gefordert war, um die häusliche Ordnung aufrechtzuerhalten und die Kinder zu anständigen Bürgern und eigenständigen Denkern heranzuziehen. Es handelte sich um einen selbstlosen Akt, der im Stillen geschah; und nun warf man ihr genau das Gegenteil vor: ihren Egoismus. Araceli allein war für den misstönenden Spott und Hohn verantwortlich, der sich ringsum erhob.
    »Wie hat sie nur auf die Idee kommen können, wir kämen nicht zurück? Das ergibt doch keinen Sinn. Sie hat uns nicht mal eine Nachricht hinterlassen. Diese Frau war immer schon neben der Spur. Und warum ausgerechnet nach Los Angeles?«
    »Das war ein Fehler.«
    »Sie hat die Kinder gefährdet.«
    Stephanie Goldman-Arbegast schwieg und nickte matt, um ihre Solidarität zu bekunden; aber sie spürte, dass Maureen – wie so viele andere – nun gleich Aracelis Bestrafung fordern würde. Das passte ihr nicht. Ich darf es meiner guten Freundin nicht übel nehmen. Vor ihr stand eine vorbildliche Mutter, die in eine unmögliche Lage geraten war. Diese Frau lebte für ihre Kinder. Ihre Kinder waren ihr größtes Kunstwerk. Und nun stand sie in der ganzen Stadt als schlechte Mutter da. Würde ich anders reagieren? Ich knirsche schon mit den Zähnen, wenn meine New Yorker Schwiegereltern meinen Erziehungsstil kritisieren – wie würde es mir gehen, wenn die ganze Stadt mich an den Pranger stellen würde? Stephanie sah, wie ihre Freundin sich auf die Lippe biss und sich wieder dem schlafenden Baby

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