In den Häusern der Barbaren
begann zu lesen. Als der Erzähler zu berichten versprach, »wie meine miese Kindheit war«, hatte es Brandon bereits gepackt.
»Weißt du, letztendlich wird diese arme Frau nur meinetwegen großen Ärger bekommen.« Einer der wenigen Kommentare, den Scott zur aktuellen Lage abzugeben wagte und den Peter Goldman zu ignorieren beschloss. »Jetzt heißt es: sie oder ich. Besser gesagt: wir. Vermutlich hätten wir die Strafe eher verdient.« Sie hatten die Flasche fast geleert und sich bisher fast ausschließlich über Baseball und Football unterhalten. Nach dieser kurzen Offenbarung seiner Schuldgefühle riss Scott sich zusammen, trank einen weiteren Schluck Wein und sah seinen alten Freund an, den Scotts Notlage eher zu amüsieren als zu beunruhigen schien. Endlich mal ein Mensch , dachte Scott, der mich nicht verurteilt . Er suchte krampfhaft nach einer geistreichen Bemerkung, um das etwas peinliche Schweigen zu beenden, als das Telefon auf dem Esszimmertisch schon wieder zu klingeln anfing und Peter Goldman zum Hörer griff.
»Nein, er ist nicht interessiert«, sagte Peter. »Genau. Vielen Dank. Auf Wiederhören! … Ich sagte: Auf Wiederhören.«
»Danke, Kumpel«, sagte Scott, »ich bin dir was schuldig.«
»Ein guter Quarterback ist nichts ohne gute Offensivspieler. Besonders, wenn ihm die Bälle so um die Ohren fliegen wie hier in diesem Haus, glaube mir.« Fünf Jahre voller Elternabende, Geburtstagsfeiern und Freizeitparkbesuche hatten die Männer zusammengeschweißt. Ihre Kameradschaft ging auf die Ehefrauen zurück, die sie durch die Gegend scheuchten und damit potenzielle Sportfernsehzeit zunichtemachten. Und alles im Namen der familiären Verpflichtungen.
Jemand klopfte an. Drei höfliche, gemäßigte Schläge, gefolgt von einer Pause und drei weiteren, ebenso gleichmäßigen, allerdings etwas lauteren Schlägen. Peter Goldman stand auf und sagte: »Ich regele das.« Einen Augenblick später traf ein warmer Lichtstrahl aus der halb geöffneten Haustür Scotts Gesicht, und er hörte Gemurmel. Nach einigem Hin und Her kam Peter an den Tisch zurück.
»Es ist jemand von der Staatsanwaltschaft.«
»Nicht schon wieder. Mist.«
»Soll ich ihn wegschicken?«
»Nein, ich muss mit ihm reden.«
Scott erhob sich, ging zur Haustür und riss sie weit auf.
»Mr Torres, wir haben Sie leider telefonisch nicht erreicht«, sagte Ian Goller. Sein anthrazitgrauer Mantel schluckte das Licht, er trug eine schmale rote Krawatte zum frisch gestärkten weißen Hemd. Peter Goldman, der ihn noch nie gesehen hatte, meinte einen Schauspieler vom Set eines alten Agentenfilms vor sich zu haben. Das immer schneller rotierende Nachrichtenkarussell hatte Goller wieder in den Paseo Linda Bonita geschleudert, ebenso das Gezeter eines besonders lautstarken Teils der Wahlberechtigten in Orange County sowie einige einflussreiche Beobachter und Kommentatoren jenseits der Bezirksgrenzen. In den verschiedenen digitalen und analogen Medien wurden Ian Goller und seine Kollegen von der Staatsanwaltschaft aufgefordert, im Falle von Araceli Ramirez, der vermeintlichen Kidnapperin, das geltende Gesetz zur Anwendung zu bringen.
Goller war direkt vom Strand in das Büro der Staatsanwaltschaft gekommen, mit nassem Haar und ungebrochenem Idealismus. Er glaubte fest daran, dass das Strafrecht auf wissenschaftlichen Grundlagen fußte. Hier kamen amerikanische und europäische Traditionen der Jurisprudenz zum Tragen, hier ging es um das rationale Abwägen von Fakten zum Schutze der Allgemeinheit. Als er in die oberen Stockwerke der Behörde hinauffuhr, im Begriff, in das walnussgetäfelte Heiligtum des Oberstaatsanwalts höchstselbst eingelassen zu werden, war sein Idealismus zu einem gewissen Pragmatismus gereift. Goller hatte nämlich eingesehen, dass es schlicht unmöglich war, sich in der Definition von Gut und Böse über die öffentliche Meinung vollkommen hinwegzusetzen. Die subjektive Wahrnehmung der Menschen zählte, ihre kollektiven Ängste und Bedürfnisse, was sie empörte und was nicht. Im vorliegenden Fall hatte es das Gerechtigkeitsempfinden so mancher Einwohner von Orange County empfindlich gestört, dass die Verdächtige ohne behördliche Genehmigung in die Vereinigten Staaten eingereist war. Allein schon aus diesem Grund beäugten die Bürger sie und ihr Verhalten den Kindern gegenüber mit Skepsis und Misstrauen, und sie erwarteten Aracelis Bestrafung. Um es laienhaft auszudrücken: Araceli sollte nicht ungeschoren davonkommen.
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