In den Häusern der Barbaren
Und Goller war derjenige, der es verhindern sollte. Aus diesem Grund fühlte er sich mehr oder weniger verpflichtet, sich in die unsicheren Gewässer der aus politischen Gründen notwendigen, aber möglicherweise heiklen Ermittlungen zu begeben.
Aber bevor er sich hineinstürzte, musste er dafür sorgen, dass er das andere Ufer sicher erreichte. Mit anderen Worten: Er musste sicherstellen, dass er gewann. Dazu wäre es nötig, das Image der Opfer aufzupolieren und ihnen den Rücken zu stärken.
»Haben Sie heute schon Zeitung gelesen?«, fragte er Scott.
»Meine Familie macht schwere Zeiten durch«, antwortete Scott langsam, kniff sich in den Nasenrücken und widerstand der Versuchung, die Hand nach der Weinflasche auszustrecken und sich ein weiteres Glas einzuschenken.
»Ich verstehe. Aber Sie sollten sich das hier ansehen.« Goller legte den Lokalteil des Orange County Register auf den Esszimmertisch. Die Schlagzeile, um die es ihm ging, nahm die untere Hälfte der Zeitungsseite ein und war absurderweise mit einem Foto spielender Kinder im Freibad von Santa Ana bebildert.
Jugendamt leitet
Ermittlungen gegen Eltern
der vermissten Jungen ein
Goller ließ Scott einen Moment Zeit, die unangenehme Neuigkeit zu verarbeiten. Scott ließ sich kraftlos zurücksinken, rückte vom Esstisch ab und nahm eine Haltung feindseliger Gleichgültigkeit ein, wobei sich ein Stück seiner himmelblauen, verwaschenen Jeans in Gollers Blickfeld schob. Peter Goldman fand, dass Scott in dieser Pose genau wie sein Sohn Brandon aussah.
»Was Ihnen und den Kindern zugestoßen ist, wird von gewissen Leuten völlig verdreht«, erklärte Goller mit väterlicher Besorgnis. Vielleicht lag es am Wein, vielleicht an der allgemeinen Anspannung, aber Scott konnte ihm kaum folgen.
»Scott. Darf ich Sie Scott nennen?«
»Bitte.«
»Ich nehme an, Sie sind in Kalifornien geboren, Scott. Stimmt’s?«, fragte Goller, obwohl er die Antwort kannte.
»Hmm.«
»Wo sind Sie zur Schule gegangen?«
»South Whittier. St. Paul High.«
»Ah, ich habe die Mater Dei in Santa Ana besucht. Ich glaube, wir sind in etwa gleich alt?«
»Kann sein. Was hat das mit …«
»Ich möchte Ihnen helfen zu verstehen, was hier gerade passiert«, unterbrach ihn Goller. »Lassen Sie es mich rundweg sagen: Viele Leute empfinden ein perverses Vergnügen dabei, Sie leiden zu sehen.«
Scott hatte auf diesen Satz nichts zu erwidern. Ihm fiel nichts ein. Er wollte sagen, es sei ihm egal, was die Leute dachten, was mit Araceli passierte, was Fernsehen und Zeitungen verbreiteten. Aber das stimmte nicht.
»Und warum ist das so?«, fragte er schließlich wie ein trotziger Teenager.
»Weil Kalifornien sich verändert hat. Es ist nicht mehr der Staat, in dem wir beide aufgewachsen sind.«
»Nicht?«
»Nein. Überlegen Sie mal, wie respektvoll die Leute früher miteinander umgegangen sind. Damals hätte niemand bezweifelt, dass gute amerikanische Eltern wie Sie und Ihre Frau nur das Beste für ihre Kinder wollen.«
»Vermutlich nicht.«
»Heutzutage ist das anders. Und warum? Weil Sie von einer Frau beschuldigt werden, die Tausende Verteidiger hinter sich hat. Schön, es ist ihr gutes Recht, sich für sie einzusetzen und zu behaupten, sie sei ein Opfer des Systems. Aber diese Leute betrachten mich und auch Sie als ihren Feind. Dieses Denken ist völlig krank, aber so ist es. Und nun wittern sie die Gelegenheit, uns alle dumm dastehen zu lassen.«
»Ich habe nichts dagegen, dumm dazustehen«, sagte Scott halbherzig. Die neue Richtung, die Goller eingeschlagen hatte, verwirrte ihn.
»Tja, es geht ja nicht allein ums dumm Dastehen, oder?«, fuhr Goller fort. »Im Ernst, diese Leute wollen Sie demütigen, um aus dieser Mexikanerin eine Heldin zu machen. Und warum? Weil sie eine fixe Idee verfolgen.« Goller hatte sich überlegt, auf abstrakter Ebene zu argumentieren und die Vergangenheit miteinzubeziehen, weil er erfahren hatte, dass Scott Programmierer war. Er spürte, dieser Mann brauchte ein stabiles Gedankengerüst, bevor er aktiv werden würde. Goller hatte seine Ansprache entworfen, als er durch unbebautes Marschland zu den Laguna Rancho Estates gefahren war, vorbei an mächtigen Eukalyptusbäumen und den kahlen Wölbungen der ockergelben Hügel. Als Staatsanwalt in seiner Geburtsstadt sah Goller sich täglich mit seiner Kindheit konfrontiert; in dieser Siedlung in Meernähe hingegen, wo der Blick ins Weite schweifen konnte, die Straßen sauber und die Gärten gepflegt
Weitere Kostenlose Bücher