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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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waren, fühlte er sich in seine Jugend zurückversetzt, in eine glückliche Zeit mit Puka-Ketten und offenen Hemden. Auf einmal war ihm vieles klar geworden, und nun würde er Scott diese grundlegenden Wahrheiten vermitteln, ihm die Gesamtzusammenhänge aufzeigen.
    »Machen Sie sich klar, in was für einer Zeit wir leben, wie verrückt das alles aus der historischen Perspektive wirken muss. Aus der kalifornischen Perspektive«, fing Goller an. »Wir sind in ähnlichen Städten groß geworden, ich in Fullerton, Sie in Whittier.« Ihre Elternhäuser standen südöstlich von Los Angeles zwischen Obstgärten und Kuhweiden. Sie hatten konkurrierende Schulen besucht, damals, als »hier noch genug kräftige, deutsch- und amerikanischstämmige Jungs wohnten, um ein ordentliches Footballteam auf die Beine zu stellen«. Kalifornien war das Paradies der weiten Landschaft und der frischen Meeresbrise gewesen, ein kleiner Garten Eden zwischen Wüste und Ozean. Es war das Kalifornien, in dem Scott und Ian Goller zur Welt gekommen waren, ein Ort ruhiger, geschmackvoller Wohnanlagen, die in geometrischer Ordnung durch Melonen- und Kohlfelder voneinander getrennt waren, durch die allgegenwärtigen Zitronenhaine, umweht vom Duft der Orangenblüten. »Dieser wunderschöne Ort ist unsere Kinderstube gewesen. Da war nichts unmöglich, und die Weite entsprach unserem Lebensgefühl. Unserer Sicht auf die Zukunft.« Aber das Paradies sei zerstört, sagte Goller; die Obstplantagen waren umgepflügt worden, um Platz für Neubausiedlungen zu schaffen, lange Häuserzeilen, die im Laufe der Jahrzehnte heruntergekommen waren und verlotterten. Seit er als Staatsanwalt arbeitete, musste Ian Goller den Verfall seiner Heimatgemeinde aus nächster Nähe mitansehen. Inzwischen lebten zu viele Menschen hier, die Leute drängten sich auf den Gehwegen, zu viele Autos verstopften die Highways. Die Häuser und Wohnungen von Santa Ana und Anaheim, vormals gehobene Wohnlagen, waren überbelegt. Die Wahrzeichen von Scotts Jugend, die Hamburger-Restaurants und Diner, waren besudelt von den schmierigen Zeichen der Zeit und von noch etwas anderem, Fremdartigem. Nie zuvor hatte so viel Müll in den Straßen gelegen wie heute. Wer hatte damals seinen Müll auf die Straße geworfen, als Scott und Ian Kinder gewesen waren? Niemand. Inzwischen war alles korrumpiert und verdorben, und die meisten Leute störten sich nicht einmal daran. Sie unternahmen nichts gegen den Einwandererstrom. Außenseiter ohne Ausbildung, die in ihrem Heimatland für sich keine Perspektive mehr sahen. Und selbst als dieser Menschenstrom schließlich mit einer mathematisch zwingenden Logik immer mehr Insassen für Gefängnisse und Haftanstalten heranspülte, schauten viele Kalifornier weg und taten so, als wäre alles in Ordnung. Schlimmer noch, die Fürsprecher dieser Leute verdrehten die Wahrheit und demoralisierten damit anständige Familien wie die von Scott, Menschen, die so vernünftig waren, in umzäunten Anlagen zu wohnen und sich vor der kriminellen Anarchie da draußen zu schützen.
    Scott hatte während des Monologs auf die Eichenholzplatte des Esstischs gestarrt und nur selten zu Goller aufgeblickt. Er hatte nicht bemerkt, dass Maureen und Stephanie Goldman-Arbegast, die eine schlafende Samantha im Arm hielt, inzwischen dazugekommen waren. Die Stimme des Unbekannten hatte sie ins Wohnzimmer gelockt. Zuerst hatte Maureen sich im Stillen über die unpassende Kleidung des Staatsanwaltes lustig gemacht, der an einem Julitag einen dunklen Anzug trug und sich wie ein Oberlehrer in seinen Vortrag hineinsteigerte. Maureen hatte seine Absichten schnell durchschaut, und unter normalen Umständen hätte sie ihn schlicht und einfach hinauskomplimentiert. Ich kann Intoleranz und Zynismus nicht ertragen , hätte sie gesagt. Aber die Umstände waren alles andere als normal, und so ließ sie sich von der Emotionalität seiner Rede ein Stück weit mitziehen. Ich verstehe die Welt nicht mehr. Ich bin von Gespenstern umgeben, von diesem Mann im dunklen Anzug zum Beispiel. Er versucht mir einzuflüstern, was ich fühlen und was ich denken soll . Eigentlich hielt sie die Immigranten nicht für Eindringlinge, ebenso wenig die Reporter, die draußen im Vorgarten kampierten und die Zufahrt zu den Estates bewachten. Sie waren nur ein bunt zusammengewürfelter Haufen von Frauen und Männern mit Mikrofonen, von Kameraträgern und Zwischenrufern, und damit verkörperten sie L. A., wie es leibte und lebte.

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