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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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Lebens ohne Rhythmus und Struktur geraten. Deswegen lächelte sie amüsiert und sagte zum zweiten Mal: »No me imaginaba.« Es hatte mit der Ankunft dieses barbarischen Haufens von Gartenarbeitern angefangen, mit jenen Männern, die Pepes Regenwald mit Macheten zerstört hatten. Damit hatten sie auch Aracelis Wurzeln gekappt, sie aus dem schattigen Dschungel hinaus ins strahlende, kalifornische Tageslicht geschubst. Nun, da sie frei war und sich keine Gedanken um Brandon und Keenan mehr machen musste, konnte sie sich über den Abschied vom Paseo Linda Bonita und die karnevaleske Irrfahrt durch Los Angeles fast freuen. Die morbide Schönheit der Eisenbahngleise, das erschreckende Traumgefühl, im einen Moment im Gefängnis zu sitzen, im nächsten schon auf den unheimlich nachtstillen Straßen des herrlichen Aliso Viejo zu stehen. Draußen im richtigen Leben, fernab der paradiesischen Laguna Rancho Estates, da gab es die silbrig schimmernden Taco-Imbisswagen auf der neununddreißigsten Straße und hungrige Arbeiter und Arbeiterinnen, die sich dicke Tortillas in den Mund stopften, und über ihnen der Himmel im sterbenden Tageslicht, blauviolett wie die Tiefsee. Diese Bilder gehörten in ihr Skizzenbuch und später auf eine Leinwand so groß wie die von Picassos Guernica . Araceli mischte im Geiste schon das Rotorange für das Feuerwerk im Hintergrund an, während ein tobender Mob im Vordergrund die Zähne fletschte. Sie stellte sich die horizontalen Kompositionslinien der Strommasten vor sowie eine Diagonale aus wucherndem Gras und Palmen, die auf amerikanische Landstriche außerhalb des Bildrahmens verwies. Eine Künstlerin musste sich draußen in der Welt umsehen, das hatte Araceli nun begriffen. In Mexiko City hatte die Alltagsbeobachtung zu ihrem Leben dazugehört; aber hier in Kalifornien hatte sich Araceli, nachdem sich ihre künstlerischen Ambitionen zerschlagen hatten, in das kleine Zimmer zurückgezogen, das die Torres-Thompsons ihr überlassen hatten. Sie hatte sich mit einem wöchentlichen Umschlag begnügt. Sie fühlte sich wie Brandon, der das Fantastische und Wunderbare in allen neuen Dingen sah. Sie wollte ihrem gordito , dem tanzenden Maler Felipe, davon erzählen.
    »Ich hätte nie gedacht«, erklärte Araceli nach einer Weile, »dass ich die Welt einmal mit den Augen eines kleinen Jungen sehen würde.«
    »¿Cómo?«
    »Brandon. Der Ältere. Er liest viel. Als wir unterwegs waren, hat er Los Angeles mit dem Schauplatz seiner Bücher verwechselt. Er war lustig. Man sieht alles neu, wenn man die Augen aufmacht wie ein Kind.« Auch in diesem Haushalt gab es Kinder, nämlich die von Octavio und Luz. Sie drückten sich in Aracelis Nähe herum und versuchten, Einzelheiten der Geschichte aufzuschnappen, um sie später ihren Freunden weiterzuerzählen.
    »Schön, dass du so ruhig bist«, sagte Luz.
    »Sí, mi siento calma« , bestätigte Araceli. Ihre Gelassenheit schien Octavio ein wenig zu enttäuschen.
    »Señor Covarrubias«, sagte sie, »das nächste Mal mache ich das Frühstück für Sie.«
    Die Lampen gingen an, und Maureen und der Fernsehjournalist sahen einander durch ihre Masken aus Make-up an. Eine Sekunde blieb Maureen, um zu denken: Oh, jetzt bin ich tatsächlich im Showbusiness, und dann stellte der Journalist die erste Frage. Es hatte vierzig Minuten gedauert, das Wohnzimmer zum Fernsehstudio umzubauen. Maureen hatte sich fest vorgenommen, mit diesem Interview ihren Ruf als gute Mutter öffentlich zurückzuerobern. Aber als die Crew schlangendicke, schwarze Kabel auf dem Fliesenboden verlegte und ein halbes Dutzend Leuchten in verschiedenen Höhen aufstellte, wichen Nervosität und Lampenfieber einem morbiden Interesse. So arbeiteten die vom Fernsehen also. Die Crew schirmte die tragbaren Vierhundertwattscheinwerfer mit transparenten Stoffquadraten ab, bis alle Schatten verschwunden waren und das Wohnzimmer in ein gleichmäßiges, etwas unheimliches Licht getaucht worden war. Sie ordneten die Familienfotos in den Bücherregalen um, stellten eine Vase mit frisch geschnittenen Rosen auf den Tisch und öffneten die Schiebetüren zum Wüstengarten. Sie klebten L-förmige Markierungen auf den Boden, wo später der Klappstuhl stehen sollte, auf dem wiederum Maureen sitzen und samt Rosen, Familienfotos und Miniaturwüste mit Kakteen und Ocotillo fotografiert werden sollte. Die Produzentin, eine Frau Mitte zwanzig, hatte gerade eine Nachricht in ein kleines Gerät getippt, und nun wartete sie auf die

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