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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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wohl sind und was sie gerade durchmachen. Ich war ja nicht dabei, um sie zu beschützen. Ich habe es kaum ausgehalten.« Ja, das entsprach der Wahrheit: Sie liebte ihre Söhne und hatte sie einen Nachmittag, eine Nacht und einen Vormittag lang verloren geglaubt. Während dieser Zeit hatte sie die schlimmsten Ängste ausgestanden, die eine Mutter nur erleben kann, und sie hatte den Schmerz dort in ihrem Körper gespürt, wo ihre Kinder herangewachsen und von wo sie in die Welt geglitten waren.
    Maureen begrub die kleinen Unwahrheiten in einer größeren Wahrheit, die den Millionen von Fernsehzuschauern bislang unbekannt gewesen war. Minuten später quollen die Diskussionsseiten im Internet über vor mitfühlenden Kommentaren. Die »Kreischerin« erwies sich als »ganz vernünftiger Mensch«. Sie war »gebildet und eloquent«, sie »liebte ihre Kinder über alles«, sie hatte »den Albtraum aller Eltern« überstanden und erzählte »ganz eindeutig die Wahrheit« über das, was sie erlebt hatte.
    »Haben Sie dieser Frau, Ihrer Hausangestellten, jemals erlaubt, die Kinder nach East Los Angeles mitzunehmen?«
    »Nein, niemals.«
    »Dann sind sie also entführt worden?«, fragte der Journalist. Es war zu gleichen Teilen Frage und Vorschlag.
    »Nun ja, sie wurden … auf eine bizarre Reise mitgenommen. Sie waren in L. A. An dem Tag haben die Hügel gebrannt. Ich schwöre Ihnen, die Kinder haben nach Rauch gerochen, als ich sie wieder in die Arme schließen konnte!«
    »Hm-hmm«, nickte der Journalist, und Maureen wusste, diese Frage hatte sie nicht gut beantwortet.
    »Aber in Aracelis Zimmer haben wir eine seltsame Entdeckung gemacht.«
    »Was haben Sie entdeckt?«
    »Seltsame Kunstobjekte. Sie hat mit Müll herumexperimentiert. Es war schon eigenartig, immerhin haben wir sie quasi als Familienmitglied gesehen. Sie hat bei uns gewohnt, wir haben ihr vertraut. Auf einmal wurde mir klar, dass ich diese Frau eigentlich kaum kannte.«
    »Bitte, erklären Sie uns etwas«, fuhr der Journalist fort. »Ich möchte Ihnen einen kleinen Ausschnitt zeigen, der inzwischen sehr berühmt geworden ist.« In einem kleinen Monitor zu seinen Füßen lief Maureens Zwölfsekundenausbruch. Maureen zuckte zusammen, als sie sich selbst mit geblähten Nüstern und mahlendem Kiefer sah. Sie hatte sich aufgeführt wie eine Bärin, deren Nachwuchs von einem Naturfilmer bedrängt wird. Dass ihr verwirrter Blick nach dem Frager suchte, verstärkte den Effekt zusätzlich.
    »Waren Sie wirklich so erbost?«
    »Ich hatte kurz davor meine Kinder zurückbekommen. Ich hatte zwei Tage nicht geschlafen. Ich war einfach nur gestresst. Immerhin hatte ich einiges durchgemacht, zuerst waren die Kinder weg, und wir wussten nicht, wie es ihnen ging. Und dann die überwältigende Freude, als sie wieder bei uns waren. Ich stand völlig neben mir. Hinzu kam noch, dass ich diesen Mann nicht sehen konnte, weil er ganz hinten stand. Da stehe ich also, eine Mutter, deren Kinder verschwunden waren, und dieser Mann beschuldigt mich. Sicher, ich hätte nicht so schreien dürfen. Aber wie ich schon sagte, ich war völlig erschöpft.«
    »Natürlich«, sagte der Fernsehjournalist, »das ist nachvollziehbar.«
    Die Aufnahme war im Kasten. Als das vier Minuten und fünfundzwanzig Sekunden lange Interview später am Abend zur besten Sendezeit ausgestrahlt wurde, nahm Janet Bryson es auf und sah es sich noch dreimal an.
    Octavio Covarrubias in Santa Ana verpasste die Ausstrahlung, denn er war dabei, zu Aracelis Ehren ein Barbecue mit carne de res vorzubereiten. Etwa eine Stunde später, als der Hauptgang serviert worden war und die Familie und ein paar Nachbarn beim Essen saßen, schlich er ins Wohnzimmer, um seinen Nachrichtenhunger zu stillen. Er sah einen kleinen Ausschnitt aus Maureens Interview, dem eine Talkrunde folgte. Den erzkonservativen Moderator schaute Octavio Covarrubias sich gelegentlich mit demselben verhohlenen Hass an, mit dem Janet Bryson ihre mexikanischen Nachbarn beäugte. Octavio musste zurück zu seinen Gästen. Er sagte sich, dass heute nicht der Abend sei, um fernzusehen, aber dann sprach der Moderator von der »Illegalen, die wieder auf freiem Fuß ist«. Octavio bemerkte, dass der Moderator so elegant gekleidet war wie immer; heute Abend trug er einen schwarzen Anzug mit hellen Nadelstreifen, und Octavio nahm sich vor, so einen Anzug zu kaufen, sollte er je einen brauchen. Der Anzug ließ ihn an die Großstadt und an alte Gangsterfilme denken, dabei

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