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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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Maureen musste an ihren ersten Tag in der Stadt zurückdenken. Das, was sie entdeckt hatte, hatte nichts mit ihren Vorstellungen von Kalifornien zu tun gehabt. Sie hatte als ledige Mittzwanzigerin in Mid-City gewohnt, einem hässlichen Viertel aus mehrspurigen Durchgangsstraßen, Schnapsläden und tristen Wohnblocks mit unterirdischen Garagen, in denen Vergewaltiger lauerten. Damals war sie nie ohne Pfefferspray aus dem Haus gegangen und hatte das Lenkrad ihres Wagens – eines femininen Honda Civic mit dem Landei-Nummernschild von Missouri – mit einem Stahlschloss gesichert, wo immer sie auch parkte. Sie war schnell ins südliche Umland geflohen. Deswegen lebe ich hier, an einem Hang über dem Meer, und nicht in irgendeiner Eigentumswohnung in Brentwood oder am La Cienega Boulevard. Hier habe ich das ursprüngliche Kalifornien gefunden.
    »Manche halten die Veränderungen in unserer Heimat für natürlich und unvermeidlich«, fuhr Goller fort. Maureen trat an den Tisch und nahm den Lokalteil in die Hand. Empört las sie die Schlagzeile. »Es liegt im Interesse dieser Leute, die Mexikanerin zum Opfer und Sie zum Täter zu machen. Und so wird es kommen, wenn Sie nichts dagegen unternehmen.«
    Maureen sah Goller skeptisch und gleichzeitig neugierig an. Ein seltsamer, eleganter kleiner Mann; nur selten begegnete man Menschen, die in der Lage waren, eine harsche, kompromisslose Ansicht so sanft und vernünftig klingen zu lassen. »Ich verstehe nicht ganz, was Sie uns sagen wollen«, warf Maureen ein, »wir sollen eine Debatte über ungemeldete und illegale Einwanderer anstoßen, um uns die Medien vom Hals zu halten? Machen wir damit nicht alles nur noch schlimmer?«
    »Nein. Sie stoßen gar nichts an. Auf keinen Fall. Ihr Part ist ganz einfach. Sie erzählen Ihre Version der Ereignisse jemandem, der sich in Sie einfühlen kann. Sie erzählen Ihre Version und räumen mit den Spekulationen darüber auf, dass Sie eine chaotische Familie seien.« Nun hatte er sie am Haken, ganz besonders Scott, der vor sich hinträumte, lauschte, nachdachte. »Ich kenne da einen Journalisten. Er arbeitet für einen Lokalsender. Er wird ein Interview mit Ihnen führen, ohne Sie in irgendeiner Form zu bedrängen.«
    Stephanie Goldman-Arbegast sah zu, wie Maureen eine Visitenkarte mit zwei Telefonnummern von Goller entgegennahm und andeutungsweise nickte. Nein, Maureen, tu das nicht . Bald darauf trommelte Stephanie ihren Mann und die Kinder zusammen und verkündete, sie müssten nun gehen. Sie hatte nicht vor, noch einmal zurückzukommen. Maureen würde sich mit ihrer Geschichte von der vermeintlichen Entführung bei den Nativisten und Rechten anbiedern, wo sie doch eigentlich den zerstörten Wohnzimmertisch hätte zur Sprache bringen sollen. So sah Stephanie die Sache. Jeder würde Verständnis aufbringen für eine Frau, die vor ihrem wütenden Ehemann geflohen war. Aber Maureen war zu stolz. Sie hatte vor, das Bild der perfekten Familie zu schützen, und legte dabei die stoische Entschlossenheit einer britischen Monarchin an den Tag. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass die Welt sie so hilflos sah wie einen Käfer auf dem Rücken.
    Einen kurzen Moment fühlte Stephanie mit der armen Mexikanerin, die in diesem Haus gearbeitet hatte, diese fleißige, perfektionistische Exzentrikerin, die Maureens Schatten gewesen war, seit Stephanie ihre Kinder zum ersten Mal zum Spielen hergebracht hatte. Die traurige Wahrheit ist, dass Araceli und Maureen sich so unglaublich ähnlich sind.
    Goller schüttelte allen die Hand und ging. Stephanie stellte sich zu ihrem Mann ans Fenster und sah, wie Goller durch den Vorgarten zu seinem Wagen lief.
    »Er hat ein Surfbrett auf dem Auto«, lachte Peter Goldman, und Stephanie überzeugte sich mit einem Blick auf Gollers BMW, dass ihr Mann recht hatte. »Sieh mal, er zieht die Jacke aus. Er ist so eine Art Batman.«
    Keine zwei Kilometer südlich lag eine Sandbank namens Cotton’s, das bestgehütete Geheimnis dieses Sommers, eine ideale Stelle zum Surfen. Ein Kleinod im Orange County, das nur den Einheimischen bekannt war. Die heftigen Winterstürme hatten den Untergrund verschoben, sodass sich bei mittlerem Wasserstand lang gezogene Brecher gleichmäßig über Sand und Steine wälzten. Ian Goller war zuversichtlich. Mit ein bisschen Glück würde er den Strand an diesem stillen Nachmittag unter der Woche ganz für sich allein haben.

19 Octavio Covarrubias bereitete für Araceli in seiner kleinen Essküche

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