In den Häusern der Barbaren
spanisch-kalifornische Variante des englischen »pick«, die sich nach jahrelangem Radio- und Fernsehkonsum in Aracelis Wortschatz eingeschlichen hatte. Er warf einen Blick auf den Haftbefehl und las laut vor: » Straftat : Kindesmisshandlung. Gefährdung des Kindswohls, um genau zu sein.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Araceli.
»Sie haben die Kinder in Gefahr gebracht. Peligro, los niños .«
Araceli schüttelte den Kopf und warf dem Captain einen giftigen Blick zu. Er versuchte anscheinend, höflich zu sein, aber letztendlich war dieser junge Beamte nicht besser als die Augenbrauen, die sie im Fernsehen gesehen hatte. Ganz offensichtlich hatten die Augenbrauen, zusammen mit den anderen TV- Gesichtern, irgendwelche Beschuldigungen fabriziert und die Behörden davon überzeugt, dass Araceli verhaftet werden musste. Schlimmer noch, diese norteamericanos schienen selbst nicht zu wissen, ob sie Araceli ins Gefängnis werfen oder laufen lassen sollten. Der Captain, der hier vor ihr stand, gehörte offenbar zur zweiten Gruppe, auch wenn die Pflicht ihn zwang, gegen sein Gefühl zu handeln.
Es ist genau wie bei el señor Scott und la senõra Maureen. Sie können sich nicht entscheiden, was sie zum Abendessen wollen, und ich soll ihnen deswegen zwei Sachen gleichzeitig machen.
»Braves Mädchen«, sagte der Captain und übersah, dass Araceli ihm für diese unnötige Herablassung einen zweiten Giftblick zuwarf.
Janet Brysons Beitrag zu der Kampagne, die Araceli Ramirez wieder hinter Gittern bringen sollte, nahm am untersten Rand einer alten Landkarte vom Orange County ihren Anfang, in einer früher als Leisure World bekannten Gemeinde. Janet war von der Aktionsgruppe Ein Kalifornien dort hingeschickt worden, um Protestbriefe zu sammeln. Erster Halt war die von Farn überwucherte Veranda eines Reihenhauses aus Porenbeton in Leisure World. Die Hausbesitzerin streichelte den Kopf ihres fügsamen, langhaarigen Hündchens, das in einer Handtasche steckte. »Gott segne Sie«, sagte die Frau zu Janet und berichtete, wie ihr Shih Tzu am vierten Juli fast zu Tode erschreckt worden sei von den Böllern, die »diese Leute« keine zwei Kilometer entfernt in ihrem chaotischen Viertel gezündet hatten. »Es war so rücksichtslos, Ginger hat gerade eine schwere OP hinter sich, die Arme!« Das Mitgefühl für Maureen Thompson und die Verachtung für illegale Einwanderer und Kriminelle jeglicher Couleur einte Janet Bryson und die Frau mit dem Hund; aber als Janet später wieder im Auto saß, bekam sie nicht mehr aus dem Kopf, wie einsam die Frau gewirkt hatte und wie widernatürlich es war, einen Hund in eine Handtasche zu stecken. Sie lenkte den Toyota Celica ihres Sohnes – Janets Caprice war am Morgen wieder einmal nicht angesprungen – gen Norden, hinein in die Vorstädte von Orange County. Am Rückspiegel baumelten rosa Würfel, und sie fragte sich, wofür er die aufgehängt hatte. Womöglich ein Bandensymbol? Diese beunruhigende Vorstellung begleitete sie auf ihrer Fahrt durch die Straßenzüge, neben denen sich rostiges Metall und zerbrochenes Glas von Neonreklamen aus besseren Zeiten häuften. Früher hatten die Leute dieses Straßennetz mit röhrenden Ramblers und El Caminos befahren, den Beach Boulevard und die Katella Avenue. Die Generation ihres Vaters war hier an Eisdielen und Burgerrestaurants vorbei zu den riesigen Buchstabentafeln gerollt, die für Double Features im Autokino geworben hatten. Inzwischen hielten die Illegalen und die Vietnamesen auf den ehemaligen Kinoflächen ihre Flohmärkte ab. Janet erinnerte sich, wie sie auf der Rückbank des Ford Falcon gesessen hatte, ohne Gurt und vollkommen sorgenfrei, wie sie das pomadige, gescheitelte Haar ihres Vaters von hinten betrachtet hatte und ihre nackten Beine am Kunstleder klebten. Janet wusste, diese Vergangenheit war unwiederbringlich dahin. Wenn sie sich freiwillig engagierte und Briefe sammelte, kam sie sich vor wie eine Frau, die im Herbst die Fenster und Türen abdichtet. Sie tat es nicht in der Hoffnung, etwas zu verbessern, sondern damit nicht alles noch schlimmer wurde.
Die Protestschreiben, die Janet Bryson bei sich trug, warnten vor der gesellschaftlichen und finanziellen Katastrophe, die im Schlepptau der illegalen Grenzgänger über das Land hereinbrechen würde; Janet hatte die Briefe persönlich abgeholt, um sie am Nachmittag dem Verwaltungsrat des Orange County zu übergeben. Die Aktionsgruppe hatte ihren Mitgliedern per E-Mail und Fax
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