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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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Araceli. Nach vier Jahren im Haus der Familie Torres-Thompson war es das erste Mal, dass sie dem Jungen diese Frage stellte: Es kam ihr angemessen, mütterlich vor.
    »El revolución« , antwortete Brandon und hielt das Buch hoch, um ihr den Titel zu zeigen: Die amerikanische Revolution .
    » La revolución« , korrigierte Araceli.
    Sie setzte sich neben ihn, was sie auch noch nie gemacht hatte, und schaute sich die Seiten an, die er las. Das Buch enthielt kurze Textpassagen und Bilder von langen Musketen, Reproduktionen alter Schlachtengemälde, Studioaufnahmen von rostigen Knöpfen und Uniformen, die irgendwo im Museum hingen. Es hatte etwas Trauriges, wenn ein kleiner Junge im Park saß und über Männer in weißen Perücken las, die schon lange tot waren. Sie wollte ihm sagen, er solle das Buch weglegen und spielen, aber es war natürlich nicht angemessen für sie, wie seine Mutter mit ihm zu reden.
    »Was ist mit Guadalupe passiert?«, fragte Brandon plötzlich.
    »Ja, genau«, mischte sich Keenan vom Klettergerüst ein. »Wo ist Lupita?«
    Araceli war für einen Augenblick verdattert. Guadalupe hatte sich fünf Jahre um die beiden Jungen gekümmert, sie war für sie wie eine große Schwester gewesen, und niemand hatte ihnen ihre Abwesenheit erklärt.
    »Deine Mutter hat dir nichts gesagt? «
    »Nein. Nichts.«
    »Ich weiß nicht, wo sie ist, aber sie ist weg«, sagte Araceli und hoffte, damit weitere Fragen abzuschneiden.
    »Sie ist weg? Du meinst, sie kommt nicht wieder?«
    »Arbeitet sie woanders?«, fragte Brandon, und der zerstreute Klang seiner Stimme legte nahe: Er ahnte bereits, dass Guadalupe gekündigt hatte. »Ist sie sauer auf Mama? Heiratet sie?« Brandon bombardierte die Erwachsenen um ihn herum ständig mit Fragen, und auch diese Erkundigungen nach Guadalupe wirkten so entspannt wie die neugierigen Nachfragen, die er Araceli sonst vorlegte: »Wieso können wir nicht zwei Tage hintereinander Geflügelwürstchen essen? … Wieso sagt man auf Spanisch buenos días , aber nicht buenas tardes ? …« Bei den Torres-Thompsons war es Familiengesetz, dass man Brandons Fragen so gut wie möglich beantworten musste. La señora Maureen war stolz auf ihren neugierigen Ältesten und prahlte gern mit seiner allerersten »brillanten« Frage, die er mit vier gestellt hatte: »Wieso fliegen Motten immer um Glühbirnen?« Keines der beiden Elternteile hatte die Antwort gewusst, und sie hatten sich in Lexika und im Internet schlaugemacht, ehe sie ihrem aufkeimenden Genie die Information geben konnte, die sein junges Hirn verlangte: Motten navigieren nachts mithilfe des Mondes, und die Lichter bringen sie durcheinander, weshalb »sie denken, sie würden um den Mond kreisen«.
    Wenn ein Junge auf seine Fragen dermaßen befriedigende Antworten bekam, wurde dadurch nur sein Wunsch verstärkt, immer mehr Fragen zu stellen. »Eine Atombombe? Wieso? Wie funktioniert die? Wie können Seeadler die Fische im Wasser von so weit oben sehen? Wer ist Malcolm X, und wieso heißt er X mit Nachnamen?« Der Junge würde entweder ein brillanter Wissenschaftler oder ein sehr nerviger Anwalt werden.
    »Ist Lupita zurück nach Mexiko?«, fragte Brandon seine vorübergehende Aufpasserin. »Aus welchem Teil von Mexiko stammt sie? Ist da dieselbe Uhrzeit wie hier? Können wir sie anrufen?«
    »No sé« , sagte Araceli und schaute genervt, um klarzumachen, dass sich ihre Unwissenheit auf alle seine Fragen bezog. »No sé nada.«
    Araceli spürte plötzlich Wärme im Gesicht: Sie schaute hoch und sah eine schimmernde weiße Phosphorscheibe, die sich durch die Wolken fraß. Die Sonne wird herauskommen, hoffte Araceli, und dann sprach sie es laut aus, und Brandon schaute hoch und nickte, und dann wandte er sich wieder seinem Buch zu, betrachtete ein Bild von zwei Armeen, die sich an den beiden Enden einer Brücke gegenüberstanden, eine Art militärischer Pattsituation. Während er beim Lesen des zugehörigen Textes mit dem Finger über die Worte fuhr, seufzte Araceli laut auf.
    Die Leiterin der Gärtnerei stattete dem Paseo Linda Bonita einen kurzen Besuch ab und hinterließ drei Papiere. Zunächst gab es auf einem Blatt ihres Skizzenblocks eine schematische Zeichnung, auf der kleine Symbole verschiedene Kakteen und Sukkulenten darstellten, die sie im Garten der Torres-Thompsons pflanzen wollte. Als Zweites gab es einen Kostenvoranschlag für die Gestaltung des Wüstengartens mit den Einzelpunkten »Arbeitszeit«, »Pflanzen« und

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