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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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blieb nicht mehr viel übrig von der angeblich so entspannenden Atmosphäre dieser Viertel am Meer. Ihre Zeit lag nun wieder in ihren eigenen Händen, sie war eine Frau, die ihr Party-Outfit in der Handtasche bei sich trug, und damit verwandelte sich Araceli sofort wieder in die Stadtbewohnerin, die sie von Geburt an gewesen war: Sie wurde hektischer, ruheloser. Ya, vámonos, ándale , los geht’s, setzt euch in Bewegung. ¡Ya! In Nezahualcóyotl musste man keine zwanzig Minuten bis zur nächsten Bushaltestelle laufen, bloß einen halben Block weit, und da warteten schon zwei oder drei Busse, standen dort in zweiter Reihe auf der Straße und hupten. Kein Mensch beschwerte sich: So war das Leben in Mexiko City, man wartete, während die Masse sich unaufhaltsam voranschob, einem den Ellbogen gegen die Brust rammte und die Einkaufstasche in den Bauch drückte. Araceli hätte sich nie träumen lassen, dass sie auch in den Vereinigten Staaten würde warten müssen, und dann auch noch so jämmerlich allein auf einer kurvenreichen Straße.
    Nicht lange nach Aracelis Abgang bemerkte Maureen, dass Samantha sich Lehmbrocken in den Reißverschluss ihres gelben Schlafeinteilers geschmiert hatte, was dazu führte, dass sie plötzlich das Gewicht mütterlicher Schlaflosigkeit hinter den Pupillen spürte. Sie schaute auf die Uhr und erkannte, dass ihr morgendliches Gefühl völliger Wachheit und Aufmerksamkeit gerade mal bis halb zehn gereicht hatte. Sobald ein Kind auf die Welt kam, war man zu zwei Jahren ständig unterbrochener Nachtruhe verurteilt, es sei denn, die genetische Lotterie gönnte einem eines der seltenen »pflegeleichten« Babys, aus denen später Erwachsene mit der sanften Ausstrahlung buddhistischer Mönche wurden. Bei ihren drei Versuchen hatte Maureen kein solches Glück gehabt: Jedes Kind hatte ihr ein Stück ihrer Jugendlichkeit geraubt, mit Nächten wie der letzten, in der ihr Schlaf um vier Minuten nach zwölf, um zwei Uhr fünfunddreißig und um vier Uhr sechsunddreißig von Samanthas Schreien gestört worden war. Die ersten Jahre eines Säuglings forderten vom Körper der Mutter ihren Tribut; sie waren überraschenderweise eine Verlängerung der neunmonatigen Schwangerschaft, wobei nun allerdings weniger Gebärmutter und Hüften als vielmehr Augenmuskeln, Arme und Rückgrat belastet wurden. Der heutige Samstag würde mit der Säuberung eines lehmverschmierten Kleinkindes beginnen und mit der gehetzten Zubereitung von Mittag- und Abendessen weitergehen, und die ganze Zeit würde sie die Jungen im Auge behalten müssen, damit sie nicht zu viel Zeit mit ihren Gameboys verbrachten, und Samantha, damit sie sich nicht verletzte, und alles würde mit einem großen Abwasch enden, wenn sie die Kinder dann endlich ins Bett gebracht hatte.
    An den meisten Tagen machte Maureen diese Verantwortung nichts aus; die edle Gesinnung der Mutterschaft strömte wie warmes Blut durch ihre Adern, sie sah ihre familiären Ambitionen in der strahlend gesunden Haut ihrer Kinder lebendig werden und in dem wunderbaren Zuhause, das sie für sie geschaffen hatte. Heute aber war keiner dieser Tage. Heute bekam sie nur die ausgefransten Enden eines Familienprojekts zu sehen, das unmerklich zerfiel, desto mehr die beiden Jungen sich Muskelmasse und schlechtes Benehmen zulegten und je weniger sie sich für das Arrangieren, Sortieren und Kreativsein interessierten, aus dem nach Maureens Ansicht ein gutes Familienleben bestand. Weit hinten im Wandschrank setzten ein Jahr Schulaufgaben und diverse Kunstprojekte der Jungen Staub an, weil Maureen keine Zeit hatte, sie zu ordnen und zu katalogisieren, wie sie es sonst tat, und auch die Bilder von Samanthas erstem Geburtstag hatte sie noch nicht einsortiert. Wenn Samantha Mittagsschlaf machte und Scott abwusch, würde sie vielleicht heute dazu kommen. Wahrscheinlich versteckte ihr Mann sich mit einem Computerspiel in seiner mit Teppich ausgelegten Höhle, und wenn sie daran dachte, überkam sie ein kleinliches Gefühl von Ungerechtigkeit, wie eine Sklavin, die erfährt, dass sie den schwersten Stein von allen tragen muss.
    In der Gegend, in der Aracelis Freundin Marisela lebte, war nichts zu sehen von der disziplinierten Ordnung und den leeren Rasengärten der Laguna Rancho Estates. Das Barrio hier in Santa Ana war vollgepropft und chaotisch, die Häuser bestanden aus Gips und Schindeln, aschgraue und rote Farbe blätterte von den Außenwänden. Es gab Palmen und Olivenbäume, Avocados und

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